Ein Riss geht durch den pazifischen Ozean. Von Alaska aus zieht er sich gen Süden, über den Äquator, und von dort nach Westen, Australien entgegen. Der Globus der Familie Richter ist vor einer Weile vom Tisch gefallen, konnte aber geklebt werden. An einem Mittwochabend im März leuchtet der blaue Planet auf der Fensterbank des Kinderzimmers und Sonali (alle Namen von der Redaktion geändert) zeigt auf Sri Lanka. Dort wurde sie vor acht Jahren geboren.
Sonali lebte zusammen mit vierzig anderen Kindern in einem christlichen Kinderheim in Colombo, bis Judith und Thomas Richter sie vor dreieinhalb Jahren adoptierten. Weil Sonali mehrere Wochen zu früh auf die Welt kam, musste sie nach der Geburt mit Sauerstoff versorgt werden. Die Netzhaut ihrer Augen löste sich, Sonali wurde mehrfach operiert, trotzdem ist sie heute sehbehindert. In Sri Lanka hätte sie deshalb keine Chance gehabt, eine neue Familie zu finden. Die Richters wiederum waren kinderlos und hätten, weil sie damals schon über 40 waren, im Deutschland kein Kind mehr adoptieren dürfen. Es blieb ihnen nur eine internationale Adoption. Ende 2014 lernten sie Sonali im Kinderheim erst kennen und holten sie dann zu sich.
Jetzt ist Sonali Berlinerin, sie hat einen deutschen Pass. Schnell hat sie Deutsch gelernt. Sie ist ein schmales Mädchen, ihre Haut ist dunkel, das Haar tiefschwarz, sie trägt eine Brille – und seit kurzem auch eine Zahnspange. „Kann die Welt eigentlich auch kaputtgehen?“ fragt sie leise, während sie den geflickten Leuchtglobus vorsichtig unten ihrer flachen Händen dreht und Deutschland auf der nördlichen Hemisphäre suchen. „Und was passiert dann mit den Menschen?“ Sonali betrachtet den Globus eingehend. Und dann will sie wissen, wann die Dinosaurier gelebt haben. Zur gleichen Zeit wie die Mammuts? Gemeinsam mit den Eltern hat sie vor kurzem einem Dokumentarfilm über das Klonen von Mammuts gesehen. Ausgestorbene Tiere wiederauferstehen lassen? Das funktioniert? Sonali beeindrucken diese Geschichten, sie bezieht sie immer auch auf sich selbst, fügt ihre eigenen Geschichten hinzu, schreibt sich einen in diese Welt.
Besonders gern zeichnet und bastelt Sonali Bücher. Mit großem, schnellem Strich und bunten Farben geht es darin im Moment vor allem um die Abenteuer ihrer drei Kuscheltiere. Und um alles andere, was Sonali beschäftigt: Bilder von Mammuts, eine Panda-Familie, zu der gerade ein Vater hinzugekommen ist, der Name der besten Freundin in großen schwungvollen Buchstaben und ein Arm, der – wie im Film, den Sonali gesehen hat – mit einer Pipette Mammut-Eizellen in ein Reagenzglas legt. Auf den letzten Seiten hat sie die Vorschau auf den nächsten Band. Sonali produziert ihre Bücher in Serie. Sie sind für sie wie Tagebücher, in denen sie ihre Eindrücke festhält.
Sonali war ein ungestümes Kind, als die Richters sie aus dem Kinderheim holten. Anarchisch nennt es Thomas Richter. Sie ist es manchmal immer noch. Am Osterwochenende sind sie raus aufs Land gefahren, Sonali dürfte ein Islandpferd reiten. Kurz habe sie Nase über die Pferdeäpfel gerümpft erzählt Judith Richter, dann habe sie glücklich verkündet: „Mit dem Pferd möchte ich nach Sri Lanka reiten.“
Wenn Thomas Richter beschreibt, wie Sonali sich mit jedem Jahr besser in die deutschen Strukturen fügt, klingt Stolz, aber auch Bedauern mit. „Das fängt mit der Ergotherapie an, geht über Konventionen im Umgang mit Mitmenschen, die sie schlicht nicht kannte. Und es betrifft natürlich auch den Schulalltag, in dem es darauf ankommt, sich anzupassen.“
Sonali besucht die zweite Klasse einer Berliner Grundschule. Sie fühlt sich wohl dort. Sie hat Freundinnen. Anders als zu Hause, wo die Eltern Sonali die Welt erkunden lassen, wie sie es will, muss sie sich in der Schule in das soziale Gefüge einordnen. Sonalis Geschichte als Heimkind und dass sie schlecht sieht, machen es ihr nicht leicht.
Wegen ihrer Sehschwäche hat Sonali einen Status als Integrationskind. Sie wird vormittags und nachmittags zusätzlich von speziell gechulten Integrationserzieherinnen betreut. Sie heißen Monika und Mirjam. Die beiden sitzen bei einer Tasse Kaffee zwischen Spielzeug und Bastelmaterialien auf Kinderstühlen im Hortraum und zeigen die großformatigen Bilder, die Sonali in der letzten Zeit gemalt hat. Monika und Mirjam kennen auch Sonalis selbstgemachte Bücher. Sie sagen, es sei bemerkenswert, dass das Mädchen derart intensiv in Geschichten lebe. Sie vermuten, es kompensiere so Unsicherheiten im sozialen Bereich. Was andere mehr im Austausch mit anderen Kindern aushandeln, verarbeitet Sonali kreativ.
Monika berichtet, dass das Mädchen in der Klasse manchmal aneckt. Während des Unterrichts kommt es vor, dass sie ihre Hände als Käfer auf dem Tisch krabbeln lässt. Nicht immer merkt Sonali dabei, dass sie ihre Mitschüler stört. Diese körperliche Unruhe, sagt Erzieherin Monika, geht möglicherweise auf mangelnden Kontakt in den frühen Kindheitsjahren zurück, im Heim hatten die Ordensschwestern kaum Zeit, sich ausgiebig um jedes einzelne Kind zu kümmern. Durch Berührungen und intensive Begegnungen erarbeitet sich Sonali jetzt den Halt, der ihr gefehlt hat, nachträglich.
Die anderen Kinder irritiert es dann, dass Sonali sie oft gleich an die Hand nimmt, und auch, dass sie im Spiel gern den Ton angibt. Mirjam berichtet, dass die Reaktionen darauf unterschiedlich sind. „Eine Freundin kümmert sich helikoptermäßig und liebevoll, wenn etwas mit Sonali ist.“
Für die Akzeptanz in der Gruppe ist es wichtig, dass die Besonderheiten der Integrationskinder von den Erzieherinnen als Eigenschaften behandelt werden, die ihren Platz in der Gemeinschaft haben. Leben und leben lassen ist das Prinzip, eine praktische Übung in Diversität.
Sonali teilt gern, was sie hat, zum Beispiel ihre schönen Buntstifte. Auch Neid sei ihr vollkommen fremd. “ Aber die Gefühle anderer zu verstehen und darauf angemessen zu reagieren, dabei braucht sie in bestimmten Situationen noch die Hilfe der Erwachsenen.“
Vor ein paar Tagen hat Mirjam deshalb weinende, lachende, ärgerliche und zufriedene Gesichter auf ein Blatt gemalt und mit ihr den Unterschied zwischen „fröhlich“ und „nett“ besprochen – wichtige Details für ein Kind, das gern Bücher bastelt und Geschichten erzählt. Wenn sie groß ist, möchte sie Schriftstellerin werden, hat sie Mirjam kürzlich anvertraut. Und Mirjam findet, das passt.
Die Besonderheiten von Integrationskindern wie Sonali werden von den Erzieherinnen als Eigenschaften behandelt, die ihren Platz in der Gemeinschaft haben. Das ist wichtig, damit sie in der Klasse akzeptiert werden. Leben und leben lassen ist das Prinzip, eine praktische Übung in Diversität.
Sonali, die sich lange nicht merken konnte, wie ihr Mitschüler heißen, kennt inzwischen fast alle Namen in ihrer Klasse. Sie hat sensible Antennen dafür entwickelt, wie sie in der Gemeinschaft ankommt. Gleichzeitig wird das Repertoire ihrer eigenen Gefühle differenzierter. Neulich, erzählen die Erzieherinnen, habe Sonali im Hort geweint. „Warum ist mein Gesicht so nass?“ erkundigte sie sich. Und wollte dann alles über das Weinen wissen, wie es funktioniert und warum Menschen überhaupt weinen. Herz und Kopf, Seele und Körper gehören zusammen. Jeden Tag lernt Sonali, die alles wissen will, etwas Neues dazu.