Wo ist zu Hause, Sonali?

Eine glänzende Faltkarte aus festem Papier liegt auf dem Wohnzimmertisch in der hellen Wohnung der Familie Richter im Bezirk Tiergarten. Auf der Vorder- und Rückseite ist Sri Lanka zu sehen, die Insel auf der Sonali vor fast zehn Jahren geboren wurde. Die Gedanken der Familie Richter fliegen in diesen Tagen dorthin. Zum Ort und zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes. Damals, als das Mädchen geboren wurde, hat das Ehepaar noch nicht an Adoption gedacht. Jetzt leben sie seit viereinhalb Jahren zusammen. Doch ein Stück der Geschichte fehlt ihnen.
Jetzt, da sich das Familienleben bestens gefügt hat und Sonali in der Schule gut angekommen ist, jetzt, da sie innige Freundschaften erlebt, ist es Zeit, sich das andere anzusehen. Den Ort der ersten Begegnung. Und den Teil von Sonalis Geschichte, der in der gemeinsamen Erinnerung fehlt. „Wie der Tag der Geburt verlaufen ist, das bleibt wohl das Geheimnis ihres Lebens“, sagt Thomas Richter. Wenn die Familie bald zum zweiten Mal nach Sri Lanka reist, geht es vor allem darum, das Land noch besser kennen zu lernen.
Der Zeitpunkt ist gut gewählt, Tochter Sonali ist alt genug, zu reflektieren, was sie erlebt. Sie kann jetzt erzählen, wie es ihr mit ihren Erlebnissen geht.

Die ersten Lebensjahre verbrachte Sonali in einem christlichen Kinderheim in Colombo, bis sie fast fünf Jahren vom Berliner Ehepaar Richter adoptiert wurde. Eine glückliche Wendung für alle Beteiligten. Sonali ist infolge ihrer Frühgeburt sehbehindert und hätte in ihrer Heimat keine neue Familie gefunden. Die Richters wiederum waren bis dato kinderlos und hätten, weil sie damals schon über 40 Jahre alt waren, im Inland nicht adoptieren dürfen.
„Gampaha, hier ist Gampaha!“ ruft das neunjährige Mädchen über die Karte gebeugt. Sonali ist im letzten Jahr in die Höhe geschossen. Sie ist schlank, hat dunkle Haut und tiefschwarzes Haar. Weil sie an diesem Nachmittag am Turnunterricht teilgenommen hat, ist sie ein bisschen müde und ruhiger als sonst. An solchen Tagen geht sie früh ins Bett. Trotzdem weiß Sonali genau, wie der Ort heißt, wo sie geboren wurde. Und von wo aus sie am Tag ihrer Geburt auf schnellstem Weg ins Krankenhaus nach Colombo gebracht wurde, um dort intensivmedizinisch versorgt zu werden.
Gampaha ist eine mittelgroße Stadt in der Westprovinz, circa 30 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt gelegen. Damals, bei der ersten Reise nach Sri Lanka, hat das Ehepaar den Geburtsort der Tochter besichtigt. Es ging darum, möglichst viel zu begreifen von der so anderen Welt, aus der das Kind stammt. „Wir haben mit einer Ärztin gesprochen, die Sonali von Anfang an kannte. Ich erinnere mich, dass es sehr laut war im Krankenhaus. Die Leute werden dort in kleinen Kabinen behandelt, die nur durch Vorhänge voneinander abgeteilt sind“ erzählt Judith Richter und zeigt auf Google Maps ein Bild vom Inneren des Krankenhauses.
Jedes Familienmitglied bereitet sich anders auf die Reise vor. Wann immer es möglich ist, übt Sonali Englisch. „Can I have a glass of water?“ fragt sie am Tisch. Das wenige Singhalesisch, das sie zum Zeitpunkt der Adoption beherrschte, hat sie vergessen. In seinen ersten Jahren in Deutschland hat das Kind den Namen seines Heimatlands bei jeder Gelegenheit gesagt. Hat sich das brennende Interesse inzwischen gelegt? Oder hat es nur andere Kanäle gefunden? Bei Besuchen in der Botschaft Sri Lankas hat Sonali festgestellt, dass sie sich mit ihren Landsleuten nicht verständigen kann. Jetzt also Englisch – schließlich will sie in ihrer Heimat mit den Leuten reden.
Judith Richter holt das kleine Notizbuch hervor, in das sie bei ihrer ersten Reise jeden Tag einen Eintrag notierte. Der erste stammt vom 3. November 2014. Da war das Paar auf dem Weg von Abu Dhabi nach Colombo und Judith schrieb an das Kind, das sie noch nie getroffen hatte: „Liebe Sonali, wir sitzen jetzt im Flugzeug auf dem Weg zu dir. Fliegen gerade über die Wüste im Jemen und so fühlen wir uns auch. Im Ausnahmezustand. Ein Wechsel im Leben. Alles wird anders werden. Schon morgen. Wir hoffen so sehr, dass wir zueinander passen werden.“

An einem Nachmittag im August fünf Jahre später werden Hausaufgaben gemacht. Die Fünfer-Reihe des kleinen Einmaleins, rauf und runter. Mühelos rechnet Sonali, trägt die Zahlen in die leeren Kästchen ihres Heftes ein. Wenn sie umgeblättert hat, fährt sie erstmal mit der Nase dicht über das neue Blatt, riecht daran und befühlt es.
Wir sitzen nebeneinander. Sie macht Hausaufgaben, ich mache Notizen und wir vergleichen unsere Füller. Dass über sie geschrieben wird, ist für Sonali inzwischen zum festen Bestandteil ihres Großwerdens geworden. Mit ihrer Mutter hat sie vor einer Weile alle Teile der Zeitungsserie hintereinander gelesen. Toll, ihr Leben durch die Augen eines anderen Menschen zu betrachten. Wenn es nach ihr geht, kann das so weitergehen. „Wann schreibst du wieder über mich?“ hat sie gefragt, als wir uns vor einer Weile trafen. „Bald! Ich komme dich besuchen und dann unterhalten wir uns und spielen.“
Sonalis aktuelle Leidenschaft ist Himmel und Hölle, das Fingerspiel zum Selberfalten. Ebenso begeistert, wie sie immer neue Spiele faltet, spielt sie das Spiel mit allen, die sie trifft. In Sonalis Schatz gibt es die Papiergebilde mit Glitzer und mit Buntstift bemalt, klein und groß. Vielleicht fünfzig Stück liegen auf der Kommode im Wohnzimmer. Als wir spielen, sage ich „Stopp“ und suche mir eine Zahl aus. „Du bist schlau!“ hat Sonali in den Himmelteil hinter die Sieben geschrieben.
Schlau sein ist gut, auch Sonali ist ein kluges Kind. Sie stellt immer die richtigen Fragen. Aber im Leben gilt es schließlich auch, die Gefühle zu bewältigen. Das ist manchmal schwieriger, als das, was den Verstand betrifft. Bestimmt teilt sie nicht alles mit, was ihr durch Kopf und Herz geht, wenn sie an Sri Lanka denkt. Ihre Tochter hänge im Moment oft ihren Gedanken nach, erzählt Judith Richter. Die anstehende Reise ist für alle Beteiligten eine wichtige Etappe – Bilder und Erinnerungen werden aufgefrischt, die Balance zwischen den beiden Heimaten des Kindes gerät in Bewegung. Neue Entwicklungen werden angestoßen.
Judith Richter erzählt an diesem Nachmittag beim Kaffee, wie sehr Sonali aus dem Häuschen war, als sie erfuhr, dass die Flugticktets tatsächlich gebucht waren. „Mama, fühl mal mein Herz“ hat das Kind gesagt und Judiths Hand auf ihre Brust gelegt. Heftigstes Herzklopfen, den ganzen Tag, bis in den Abend hinein.

Thomas Richter möchte in Sri Lanka die Ärztinnen treffen, die sich damals und auch später, als Sonali schon älter war, um ihre Augen gekümmert haben. Er möchte seinen Dank loswerden, dass diese Frauen so viel für das Kind getan haben. Die Eltern wissen medizinisch Bescheid über die einzelnen Schritte, die unternommen wurden. Sie haben sich eingelesen, versuchen alles, um Sonalis Sehvermögen zu stärken. Und tatsächlich kommt Sonali gut zurecht. Sie fährt schon eine ganze Weile Fahrrad, ihre Zeichnungen sind nicht nur farbenfroh, sondern auch exakt. In den Monaten nach ihrer Geburt ist das Kind vor dem Erblinden gerettet worden.
„Wie konnte ich blind werden?“ will Sonali wissen. „Mama, erzähl mir davon.“ Alles, was mit der fernen Szene zu tun hat, interessiert sie brennend. „Erzähl noch mal, Mama“ sagt Sonali und schaut Judith erwartungsvoll an. „Wie war es damals, als ich geboren wurde?“ Aus der Aktenlage haben die Eltern einiges rekonstruiert. Auf der Reise sollen weitere Puzzleteile hinzukommen. Den Weg, den das Baby am Tag der Geburt zurückgelegt hat, vom Krankenhaus in Gampaha nach Colombo, wollen sie dieses Mal gemeinsam in einem Tuk-Tuk zurücklegen. Herausfinden, wie lange er dauert. Und Sonali wird sich an ihre frühen Kindheitstage erinnern. „Die Gerüche, die dort sehr stark sind auf der Straße werden ihren Teil beitragen“, glaubt Judith.
In der Berliner Gegenwart leben Eltern und Kind fröhlich zusammen. Alle drei wissen das sehr bewusst zu schätzen. Bestimmt liegt auch das an den besonderen Umständen der familiären Situation. Judith erzählt, dass Sonali ihr gutes Leben nicht als gegeben ansieht. Auch an diesem Tag jubelt sie über den gedeckten Abendbrottisch „Salami und Melone, lecker“! Sonalis bemerkenswertes Talent, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Es hat mit ihrer Geschichte im Kinderheim zu tun. Bald wird sie es wiedersehen. Aber alle Kinder, die dort mit Sonali lebten, sind inzwischen anderswo untergekommen und auch die Belegschaft ist komplett neu. Trotzdem hofft Sonali, in ihrer alten Heimat bekannte Gesichter zu sehen. Mehr von ihren Wurzeln zu fassen zu bekommen.
Auch in den Gesprächen in der Schule ist Sri Lanka jetzt Dauerthema, wie eine Lehrerin erzählt. Judith hat dem Kind Sri Lanka-Rupien mitgebracht. Darüber, dass man für einen Euro fast zweihundert Rupien bekommt, kann Sonali nur staunen. Sofort hat sie einen Teil ihres Ersparten bei der Mutter umgetauscht. Auch hat sie ihrer engen Freundin aus der Nachbarschaft von dem Geld etwas abgegeben. Die Freundin kommt zwar nicht mit, aber darum geht es nicht. Sonali weiß, dass Sri Lanka tief in ihr steckt. Und alles, was damit zu tun hat, will sie mit denen teilen, die ihr wichtig sind.