Alte Bekannte, neue Zeiten?

Ein Intendant bekennt, dass er gar nicht weiß, was ein Intendant eigentlich macht.

Das große Theaterding in Mitte heißt nach einem mehrjährigen Zwischenspiel nun wieder Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Seit dieser laufenden Spielzeit darf die Zuschauerin wieder alten Bekannten aus der Castorf-Ära zusehen. Es sind gereifte Schauspielerinnen und ihre Geschichten sind mit dem Haus verknüpft. Außerdem an Bord: der obligatorische Martin Wuttke im Slapstick-Modus mit einem Hang zum Stottern. Einige Pläne, die das Team hatte, sind im Vorfeld geplatzt.

Zum Start der neuen Ära Volksbühne, die neben René Pollesch auch von Wuttke und Angerer und anderen geleitet wird, die sich entschieden haben, Pollesch für sich sprechen zu lassen, hat der Autor-Regisseur sich Lehrstücke des Altmeisters Bertolt Brecht vorgeknöpft. Seine Versionen haben sich natürlich, was den Plot und die Figuren und alles andere angeht, von den jeweiligen Originalen entfernt. Immerhin lassen sich hier und da thematische Referenzen ausmachen. Insgesamt aber steht das Prinzip Lehrstück im Zentrum des Interesses: Kollektiv statt Individuum, Revolution statt Repräsentation. Und noch ist – anders als es das Lehrstück in Reinform verlangt – das Publikum mit von der Partie.

Die Rückeroberung

Am ersehnten Eröffnungsabend „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ bespielte eine in die Jahre gekommene Künstlertruppe die Bühne. Mit Kathi Angerer, Susanne Bredehöft, Martin Wuttke und Margarita Breitkreiz eroberten sich Gesichter, Stimmen und Körper von früher diesen Ort zurück. Und das geschah recht demonstrativ ohne die Verve, die vielleicht erwartet worden war. Was eigentlich ein Anfang sei, wurde besprochen, auch die alte Frage nach der Schönheit kam auf. Schon während des freudigen Wiedersehens machte sich am Eröffnungsabend die Einsicht breit, wie sehr sich die Welt insgesamt und mit ihr die Theaterwelt in den letzten Jahren verändert hat. Draußen wartet die Coronapandemie auf ihren nächsten Auftritt, die Öffentlichkeit zerfällt in einem rasanten Tempo und im Theater wächst Ungewissheit darüber, was eigentlich zu fragen wichtig wäre. Was eigentlich der gesellschaftliche Auftrag ist.

Das große „OST“ auf dem Dach fehlt, es ist mit Castorf verschwunden. Auf dem Theatervorplatz steht ein Zirkuszelt und zwei Wagen, die Aufschriften tragen: LOVE, HATE. Bei einer Benefiz-Veranstaltung für den notleidenden Zirkus Hopplahopp werden von den Ensemblemitgliedern Rosa Lembeck und Inga Busch Requisiten aus großen Inszenierungen der Castorf-Ära verlost, Kleider von Sophie Rois und Schirme aus dem „Pariser Leben“. Traditionspflege betreibt auch Hanz Broichs etwas konturloser Dokumentarfilm „Highfalutin“ über den verstorbenen Schauspieler Volker Spengler.

Mehr Situativ als Narrativ

Das Bühnenbild für die „Vorhang“- Produktion – in unzähligen Varianten tanzender Stoff in kräftigem Orange – hat sich der Nachfahre Leonard Neumann, Sohn des verstorbenen Chefästheten Bert Neumann, schön ausgedacht. Aus der Gefahr, allzu tief stecken zu bleiben im Vergangenheitskult helfen Polleschs selbst gemachte Theaterabende heraus. Sie kommen nach dem „Vorhang“ poppig, unangestrengt, respektive spannungsarm daher und spalten das Publikum in Fans und solche, die behaupten, sich Pollesch nie wieder ansehen zu wollen. Auf die Eröffnung folgt mit „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ eine Übernahme der Wiener Festwochen. An diesem Abend geht es um Dramaturgie und Castings. Er hebt sich von der Eröffnungsproduktion als fröhliche Show mit Tanzfilmelementen ab. Mit dabei: ein weibliches Tanz-Ensemble, das chorisch sprechen darf. Und die wie ein Revolvermagazin rotierende äußerst effektvolle Guckkastenbühne von Nina von Mechow. Der Abend versprüht Glamour und man hört den Spieler:innen gerne zu, ohne genau zu wissen, worum es geht.

Mehr situativ als narrativ funktioniert auch die von mehreren Partner koproduzierte Tanzproduktion „A Divine Comedy“ aus der Werkstatt der österreichischen Choreographin Florentina Holzinger. Es gibt ein Wiedersehen mit den Skeletten, von denen Martin Wuttke in der „Vorhang“-Produktion eines auf dem Rücken trug. Das durchweg nackte Frauenensemble trägt sie als Memento Mori ebenfalls auf dem Rücken mit sich herum, führt minutenlanges Holzhacken vor, Hürdenlauf, elektrisierende Tanzszenen und eine glitschige Schlacht mit Farbpistolen. Frauen lassen sich mit ausgebreiteten Armen rückwärts von einem Podest fallen oder baumeln von der Decke: zwischen Stunt und Tanz changieren die Darbietungen, nur ballen sie sich, anders als in Holzingers preisgekrönter Produktion „Tanz“ nicht zu einem thematischen Kern. Zudem entgleist Holzingers Feier des Düsteren bisweilen in Richtung Pathos und das Ganze bleibt etwas konfus.

Mahnmal der Ausbeutungslogik

Constanza Macras‘ Tanzabend „The Future“ ist ein theatraler Essay über die Menschheitsgeschichte. Tänzer:innen brechen rennend wiederholt zusammen, als würden sie erschossen. Abstrakte Reden wechseln sich ab mit Discoszenen, immer wilder werden musikalische Stile verschiedener Jahrzehnte gemixt, das Phänomen Retro wird untersucht. Macras und ihre Compagnie DorkyPark stochern im Thema Zukunftsbilder herum, bis sich irgendwann ein Impressario in eine flammende antikapitalistische Rede hineinsteigert. Im Hintergrund ein Bild der Salzwüste Salar de Uyuni in Bolivien als Mahnmal der Ausbeutungslogik. Wir selbst, darauf läuft der Monolog hinaus, schaufeln unser Grab, indem wir uns einverstanden erklären mit den Konditionen, die Netflix, H&M und Amazon uns diktieren.

Alle Stücke im Repertoire der Volksbühne sind von ihren Autor:innen inszeniert, sie sind merklich auf der Suche nach Dramaturgien, mit denen der Realität beizukommen ist. Weit und breit keine konsistenten Figuren, keine psychologisch motivierte Handlungsdramaturgie. In der Nachfolge Brechts hält das Volksbühnen Team die Scheinwerfer in die Architektur der Gesellschaft und damit hinter die Kulissen individueller Tragödien. Auch, weil es die Schauspieler:innen langweilt, so etwas zu spielen, sagt Pollesch. Emanzipiert es uns, wenn wir diesem Sprechen ohne Subtext zusehen, wenn uns im Theater genau die Stories verweigert werden, nach denen wir Serienjunkies hungrig sind? Vielleicht. Ja, wenn Schauspieler:innen avantgardistische Theorien auf den eigenen Lebenszusammenhang anwenden, ist das unterhaltsam und lustig. Oft jedoch fehlt der Biss. Es fehlt der Austausch zwischen Bühne und Zuschauerraum. Dann lässt uns die Aufführung gut gelaunt, aber nicht unbedingt wacher zurück.

„Das Riesending in Mitte“

Im November feierte ein weiteres Brecht-Zitat aus der Pollesch-Schmiede Premiere: „Herr Puntila und das Riesending in Mitte“. Franz Beil, Astrid Meyerfeldt, Inga Busch und Christiane Groß verhandelten Klassenunterschiede in einem Bühnenbild, das die Stufen und Eingangstüren der Volksbühne nachbildete (Nina von Mechow). Wer darf mitspielen und wer nicht, wer kann sprechen und wer nicht? Wer kann sich die Immobilien in Mitte leisten? Astrid Meyerfeldt erzählt von den Silberfischchen in ihrer Hochhauswohnung, von deren Drang nach ganz oben, gegen den sie anwohnt. Mit ausreichendem astronomischem Abstand seien wir Menschen wie diese Silberfischchen, die aus irgendeinem Grund hoch hinauswollen. Aber wer wohnt gegen uns an? Da ist sie wieder, die naturgeschichtliche Perspektive. Da sind die Fragen, die uns helfen, unsere Lage und unsere Gesellschaft zu begreifen und genau darum muss es im Theater gehen.

Apropos Fragen und Antworten. In Abgrenzung zu den üblichen Bescheidwissern der Theaterszene präsentiert René Pollesch sich selbst gern als Dilettant. „Er wisse gar nicht, was ein Intendant eigentlich macht“ behauptete er kürzlich in einem Interview. Das Programm an der neuen Volksbühne käme zustande, indem Lilith Stangenberg, Kathrin Angerer, Martin Wuttke, Thomas Schmauser und all die anderen an der Volksbühnenleitung Beteiligten Künstler:innen ins Gespräch bringen, mit denen sie zusammenarbeiten wollen. Baut der Pollesch-Trupp also hinter sorgfältig verschlossenen Kulissen das Haus womöglich in einen Apparat um, an dem ein anderer Umgang mit Macht geübt wird? Ein Ort, an dem Utopien entstehen könnten? Proben die vielen Köpfe und Körper das Lehrstück, an dessen Ende das Kollektiv steht? Lassen das die Öffentlichkeit und die politischen Gremien, lassen wir als Publikum das zu? Wir werden sehen.