Vanessa Stern inszeniert für ihren Schuldenmädchen-Report echte Menschen mit echten Problemen
Sexleben oder finanzielle Verhältnisse – worüber schweigen wir lieber? Die Berliner Theatermacherin Vanessa Stern hat mit echten Schuldnerinnen einen kurzweiligen Theaterabend auf die Dresdner BürgerInnenbühne gebracht. Mit Handkamera und Close-Ups und einer lockeren Dramaturgie ist die Produktion ästhetisch zwar auf der Höhe der Zeit. Weniger Milde in der Selbstanalyse, mehr Rage und Reflexion über die eigene Naivität, mehr Mut zur rigoroser Selbstbefragung hätten dem Abend vielleicht noch mehr Tiefe verliehen. Unerforscht blieb die Frage, warum Frauen – anders als Männer – die Risikobereitschaft zuverlässig an der falschen Stelle packt – immer dann, wenn es um andere geht. Und oft aus Liebe.
Der Titel Ihrer Produktion spielt auf den Schulmädchen-Report an. Der war im Jahr 1970 außerordentlich erfolgreich als Buch und als Film. Wie knüpfen Sie an dieses Projekt an?
Die Parallelen zum Film sind zahlreich. Genau wie der Schulmädchenreport schlachten auch wir den Kitzel eines schambesetzten Themas aus. Auch wir wollen unterhalten und aufklären. Geld ist heute oder vielleicht immer schon weitaus schambesetzter als Sex. Geld haben oder nicht haben steht in unserer Gesellschaft dafür, ob man es geschafft hat. Oder eben nicht. Das ist eng mit Selbstbild und Selbstachtung verbunden. Auf der Bühne darüber zu reden, wie hoch deine Schulden sind, kostet wirklich Überwindung.
Der Erfolg des damaligen Softpornos hing ja mit der Illusion zusammen, dass hier echte Geschichten erzählt werden. Welche Rolle spielt Authentizität in Ihrer Produktion?
Die Konstellation mit Laiinnen spielt grundsätzlich mit Voyeurismus. Das muss also auf der Bühne thematisiert und damit ins Publikum zurückgespiegelt werden. Meine Darstellerinnen reflektieren in ihren Texten, dass sich das Publikum an ihren Elendsgeschichten labt. Alles ist echt und wahr, unsere Frauen sind wirklich in Geldnot oder das Thema Schulden hat ihre Biographien tief geprägt. Trotzdem oder gerade deshalb nehmen sie die Zusatzbelastung der Theaterarbeit in Kauf für eine Aufwandsentschädigung von 30 Euro pro Abend.
Wenn schon über Geld geredet wird, gehören auch ökonomischen Verhältnisse der Produktion auf den Tisch?
Genau. Eine junge Frau bekam vom Theater Geld dafür, dass sie unser improvisiertes Material transkribierte. Sie erzählt in einer Improvisation, dass sie jetzt diesen guten Job am Theater hat, und die anderen beschließen, solidarisch zu schweigen, damit sie weniger Transkriptionsarbeit hat für mehr Geld. So wird den realen ökonomischen Verhältnissen etwas entgegengesetzt. Das sind für mich die großen kleinen Momente, in denen Frauen eine Bande bilden. Der Mut sich zu offenbaren, sich zusammen zu tun. Das ist der bedeutsame Schritt in Richtung Emanzipation.
Wie haben sie die Frauen gefunden? Und warum gehen sie mit dem Thema auf die Bühne?
Das Staatsschauspiel hat mit Plakaten unter anderem bei der Schuldnerberatungen gesucht. Zwei sind während der Produktion ausgestiegen. Das hat mit dem belastenden Thema zu tun. Diejenigen, die dabei geblieben sind, suchen die Konfrontation mit der eigenen Geschichte. Sie ergreifen die Chance, Distanz zu gewinnen. Eine Spielerin will zur Abwechslung mal was Erfüllenderes tun, als zum Mindestlohn in einem Handwerksberuf mit unterirdischem Arbeitsklima zu schuften. Das passiert im Kollektiv des Spiels und auch durch theoretische Auseinandersetzung. Wir haben Texte von David Graeber, Marx, Georg Simmel und Emile Zola gelesen und die überindividuelle Sicht auf das Thema gesucht.
Wie sieht das geschlechtsspezifische Muster in Bezug auf Schulden aus?
Die Erfahrung aus dem Projekt ist die, dass Frauen einer bestimmten Generation oft in Schulden geraten sind, weil sie Bürgschaften für die Unternehmen ihrer Männer übernommen haben. Eine hat sich aus einer emotionalen Bindung heraus mit Haut und Haar verpflichtet. Sie hat den Kredit übernommen für die Immobilie ihres Mannes, mit dem sie inzwischen in Scheidung lebt. Sie steht finanziell vor dem Nichts und lebt in der völlig absurden Situation, dass dieser Mann ihr die Miete mindert, weil das Dach des von ihm gekauften, aber mit ihrem Darlehen finanzierten Hauses defekt ist. Damit zu leben, ist sehr anstrengend. Grundsätzlich gilt: Der Mann beweist Mut, wenn er investiert und einen Kredit aufnimmt. Wenn eine Frau sich verschuldet heißt es, sie kann nicht mit Geld umgehen.
Worin liegt für die Akteurinnen der Mehrwert der Theaterarbeit?
In der künstlerischen Auseinandersetzung können sie sich zwar nicht von den Schulden, aber zum Teil von ihrer Schuld befreien, indem sie die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten begreifen und ihre eigene Rolle im Spiel. Es geht um existentielle Fragen, um eine andere Sicht auf die eigene Biographie, letztlich auch darum, wieder Freiräume zu finden. Eine gestandene Frau, die einen großen Fehler gemacht hat, versucht, sich mit ihrer unklugen Entscheidung zu versöhnen.
Welche Ästhetik wählen Sie für ihren quasidokumentarischen Ansatz?
Wir knüpfen ästhetisch an den Schulmädchenreport an, verwenden auch die Musik. Der emanzipatorische Ansatz des Abends liegt darin, dass die Frauen ihre Geschichten selbst erzählen, als Regisseurinnen der eigenen Biographie. Dafür nutzen wir eine Handkamera. So wird gezeigt, wie ein bestimmter Ausschnitt von Narration entsteht. Einzelne Akteurinnen geben Schlüsselmomente zu Protokoll und filmen einander dabei. So entsteht eine gewisse Objektivität.
Hat die ökonomische Situation der Frauen sich auf den Arbeitsalltag der Produktion ausgewirkt?
Es war klar, dass wir nicht zusammen essen gehen können. Selbst wenn ich es mir leisten hätte können, alle zum Essen einzuladen, wäre man wieder auf das Thema gestoßen: Was schuldet man sich gegenseitig?
Schulden macht man also auch auf emotionalen Gebieten?
Geben und Nehmen ist das Prinzip des menschlichen Miteinanders. Vertrauen bedeutet jemand emotionalen Kredit geben. Wir gehen ständig mit diesen Prinzipien um, ohne uns das klar zu machen. Während der Arbeit in Dresden war ich wenig zu Hause und habe das schlechte Gewissen gegenüber meinen Kindern zum Teil ökonomisch gelöst. Habe ihnen also Dinge gekauft, weil ich das Gefühl hatte, ich „schulde“ ihnen etwas. Genau, wie mein Vater es sein ganzes Leben lang gemacht hat, und wie viele Eltern es tun.
Sie arbeiten als feministische Theatermacherin vor allem mit einem selbstironischen Ansatz. Wäre es nicht an der Zeit, fordernder, aggressiver aufzutreten?
Humor läuft immer Gefahr, innerhalb des normierten Rahmens zu bleiben, weil er schließlich den Rahmen als Bezugspunkt braucht. Man kann radikaler für die feministische Sache eintreten, wenn man Politik macht, wenn man die Komik weglässt. Ich brauche ich die Komik, weil so mein Kopf wach bleibt. Als Künstlerin ist es mein Prinzip, ästhetisch, wie politisch, mich selbst zur Debatte zu stellen. Die Tatsache, dass man sich auf die Bühne stellt, dass man sich Raum nimmt, dass man die eigene Geschichte selbst erzählt, das ist ein großer Schritt.
Ihre nächsten Projekte?
Zunächst forsche ich mit einem Recherchestipendium des Senats nach der „komischen Alten“. Das nächste größere Theater-Projekt heißt Sleeping Beauties, Sleeping Duties. Schneewittchen, Dornröschen um müde Mütter, über die Pflicht, gut zu schlafen, um fit zu sein für die Anforderungen des Arbeitslebens. Das ist ein Stück über Schlaf als ökonomisches und politisches Thema, wider die „Weckrufe“, wie sie in der konventionellen Sprache der Politik benutzt werden. Dafür haben wir vom Hauptstadtkulturfonds Geld bekommen. Ich freu mich schon drauf, bald im Projektauftrag mehr zu schlafen.