Inszenierung im Quadrat

Es war einmal ein öffentlicher Raum, der analog bespielt wurde. Damals bedeutete Theater Foyergetümmel, Gemeinschaft im abgedunkelten Mutterleib der Kunst, enges Sitzen, Geruch nach Staub und Parfum, Klangteppich aus Hüsteln und danach ungeteilte Aufmerksamkeit jedes und jeder Einzelnen für das, was auf der Bühne vor sich ging. Theater war gesellschaftliche Selbstbefragung unter Zeugen.
Im zweiten Lockdown ist alles anders. Vor allem das Zuschauen hat sich diversifiziert. Das Publikum schaut zu Hause vereinzelt Theater an und die Formate sprießen. Vom visuell und auditiv professionell produzierten Stream (Gorki Theater) über Einblicke in Probenarbeiten (Theater Augsburg) bis zur interaktiv angelegten Zoom-Konferenz aus dem Hotelzimmer (Residenztheater) quillt die Wundertüte Netztheater über. Auf die sorgfältige Umsetzung kommt es an.

Als das Maxim Gorki Theater im Oktober für gestreamte Produktionen warb, kündigte es an, die einzelnen Inszenierungen mit hohem Aufwand filmisch in Szene zu setzen: das nächste Level, Inszenierung im Quadrat mit dem Ziel, „mehr anzubieten als eine stationäre Perspektive aus dem Saal“. Das Produktionsteam, so erklärt es der Pressesprecher des Gorki, Daniél Kretschmar, arbeite für jede Inszenierung ein Konzept für die Adaption aus.
Anhand von zwei Inszenierungen begebe ich mich in den vergleichenden Selbstversuch und forsche nach diesem „Mehr“. Sehe Berlin Oranienplatz zuerst und, weil Anfang November der zweite Lockdown kommt, am Ende ausschließlich als Stream. Der Stream ist beim Gorki fest terminiert und während vierundzwanzig Stunden abrufbar, das Zeitfenster zum Schauen muss also eingeplant werden. Die Kameraperspektive gewährt nach dem Einloggen zunächst freie Sicht auf den abgefilmten Zuschauerraum. Die Bühnentotale vom Parkett hinten gesehen. Schon nach kurzer Zeit vergisst die Kamera die Umgebung und konzentriert sich auf das, was auf der Bühne und dem Bühnenhintergrund zu sehen ist.

Für seine Adaption des Döblin-Klassikers hat Regisseur Hakan Savaş Mican seinen smarten Helden an einschlägigen Orten der Stadt gefilmt. Die Inszenierung ist ein Spezialfall, weil sie von vornherein filmisch angelegt ist. Can (Taner Sahintürk) ist zu sehen, wie er vor der JVA Tegel lässig an seinem alten Mercedes lehnt und raucht, später am Kreuzberger Oranienplatz. Beim Handel mit gefakten Markenklamotten hat er sich strafbar gemacht, will vor der drohenden Haft nach Istanbul fliehen.
Die Hauptfigur fest im Blick, flaniert die Kamera durch das Revier Kreuzberg, nimmt Abschied von den unspektakulären Szenerien. In diesem Moment noch nah, bald unerreichbar. Die Filmebene speist Orte, Bilder, Welt in die Intimität des Theaterraums ein, ohne jedoch Fernsehrealismus nachzuahmen. Im Gegenteil, auch Micans Filmsequenzen sind theatermäßig, poetisch durch provozierende Statik. Die auf den Bühnenhintergrund projizierten Filmsequenzen verschmelzen mit den Bühnenmomenten zu einer atmosphärischen Erzählung fast ohne Nahtstellen. Im Film sieht man Begegnungen mit der Mutter auf dem Markt am Maybach-Ufer, mit einem Freund des Vaters im Reisebüro. Die Nahaufnahmen ermöglichen filigranes Spiel, auf der Bühne dagegen bringt die live gespielte Bar-Musik den schwermütigen Grundton der Geschichte zum Schwingen und das Ensemble trumpft mit Spielfreude auf. Die Wechsel des Mediums sind elegant organisiert: Cans ständiger Begleiter, der Mercedes 230E, so alt wie er selbst, wird auf der Bühne von einem Spielzeugauto gedoubelt. Die Tatsache, dass ich nicht im Saal sitze, ist nach wenigen Minuten in den Hintergrund gerückt, die Regie der Streamaufnahme vermittelt, ohne sich dabei selbst in den Vordergrund zu spielen, geschickt die Illusion, live dabei zu sein.
Der technische Apparat gebe jeweils sein Bestes im Dienst der ursprünglichen Inszenierung, so Daniél Kretschmar. Es geht um jenen Effekt, der sich im Selbstversuch tatsächlich eingestellt hat: Die Aufnahme macht vergessen, dass es sich nicht um analoges Theater, sondern „nur“ um dessen filmisch vermittelte Version handelt. Der hohe technische Aufwand dient paradoxerweise dazu, die Technik zu vergessen und das Als-ob des Live-Events zu kreieren. Es ist – ganz altmodisch – das Ideal des Illusionisten, dass beim Gorki-Streamen konsequent verfolgt wird. Und das „Mehr“ zur statisch abgefilmten Vorstellung löst sich in einer zurückhaltenden Regie ein, die sich ganz in den Dienst des Live-Events stellt. Zusätzlich zu dem, was für dieses Ziel von der hauseigenen Videoabteilung geleistet werden könne, müsse Expertise eingekauft werden. Der finanzielle Aufwand werde derzeit aus dem laufenden Etat gestemmt. Ideal wäre natürlich, so Kretschmar, wenn sich die Mehrkosten irgendwann aus den Ticketverkäufen refinanzieren ließen. Immerhin, der Stream wird gut angenommen, auch das Soli-Ticket für 10 statt 5 Euro läuft. Per Stream würden pro Termin Zuschauer‘innen im „zufriedenstellenden dreistelligen Bereich“ erreicht, erklärt Kretschmar.

Für das Streaming-Angebot werden vornehmlich neuere Produktionen ausgewählt. Im Moment sind es vier, darunter auch der vierte und letzte Teil der Gorki-Saga aus der Feder von Sibylle Berg. Die Premiere Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden kommt Ende Oktober unter den üblichen Hygienevorschriftsvorkehrungen heraus und ist danach noch genau zwei weitere Male im Theater live zu sehen. Statt der üblichen 420 bietet das Gorki unter Einhaltung der Abstandsregeln noch 95 Plätze an. Keine Menschentrauben im Foyer, die eintreffenden Zuschauer*innen nehmen ihre Plätze ein, lassen ihre Blicke durch die gelichteten Reihen schweifen. Noch exklusiver ist live-Theater in Corona-Zeiten. Als es losgeht, stehen Anastasia Gubareva, Svenja Liesau, Vidina Popov und Katja Riemann in gestreiften Bademänteln an Rollatoren in Magda Willis abstraktem Bühnenraum. Ihre Gehhilfen fungieren auch als DJ-Pulte. Die Hexenmeisterinnen ihrer nichtchronologisch erzählten Lebensbilanz verhaken sich wütend und wehmütig in einzelnen Momenten, das Piepen des medizinischen Überwachungsgeräts schwillt an zum dröhnenden Elektrobeat. Die Produktion ist eine so anarchische wie unbarmherzige Rückschau auf ein Frauenlebens unter den Gegebenheiten des Neoliberalismus: ein Highlight der Saison.
Und dann noch mal im Stream. Es ist nicht mal Abend, doch der Furor der einsam Sterbenden trifft wie beim ersten Mal mitten hinein ins Zuschauerinnenherz. Im Unterschied zum Live-Erlebnis treten dieses Mal die Einzelleistungen der Spielerinnen noch plastischer hervor. Durch Nahaufnahmen und wechselnde Perspektiven setzt sich Katja Riemann als ältere Sterbende mit ihrer geballten Desillusionierung vom lodernden Feuer der Jungen ab. Svenja Liesaus schnoddriger Witz, die komischen Sprechkaskaden von Vidina Popov und Anastasia Gubareva wirken eine Spur individueller. Die Kameras lenken die Blicke unmerklich und es ist schwer zu entscheiden: War die Alt-jung-Binarität in der Totalen weniger offensichtlich oder verdankt sich die differenziertere Wahrnehmung dem wiederholten Zuschauen? Auch in der Hinsicht, dass die Kamera zu Beginn und Ende der Vorstellung den Theaterraum zeigt, inklusive spärlich besetzter Reihen, erreicht die Bildregie ihr Ziel. Sie vermittelt die Illusion, da gewesen zu sein. Es sind eher feine Unterschiede, die sich im Vergleich der beiden Erlebnisse einstellen. Die Zeugenschaft fehlt, aber sehr viel anderes ist da. In beiden Fällen sind die Eindrücke und die charakteristischen Züge der Inszenierung gleichstark. Das Streaming-Produktionsteam des Gorki hat ganze Arbeit geleistet – um das Medium Theater auch am Endgerät erlebbar zu machen.
Wie lange wir das gestreamte Theater noch brauchen, ist zur Zeit noch nicht absehbar. In der Variante des ambitionierten Streams lässt sich der Lockdown jedenfalls gut überbrücken. Und es ist wahrscheinlich, dass er auch in postpandemischen Zeiten eine Rolle zugewiesen bekommt. Schließlich verhelfen Streaming-Angebote dem Theater zur Diversifizierung seines Publikums und zum breiteren Anschluss an die digitalisierte Gegenwart. Dass einige Häuser bei der Organisation des Kontakts zum Publikum experimentierfreudig sind, ist eine gute Nachricht. Es verspricht Reichweite und gesteigerte Popularität für jüngere Kunstinteressierte, mehr Formate zwischen live und virtuell. Nur eins ist sicher: die Pandemie hat beide, Publikum und Theater aus der Komfortzone geschubst, einer anderen Zukunft entgegen.