Neue Doppelrollen

Immer mehr Schauspielerinnen brechen aus den Ensembles und ihrem Beruf aus, um Rollenklischees zu entgehen und eigenverantwortlich kreativ arbeiten zu können. Drei Beispiele

Auf der Bühne und vor der Kamera stehen, in die Haut anderer schlüpfen, Geschichten erzählen und ein interessantes Leben führen: Traumberuf Schauspielerin. Vom Publikum oft bewundert, gelten Schauspielerinnen in Theaterkontexten im Verhältnis zu Regisseurinnen und Autoren oft als nachrangig. Sich künstlerisch im Betrieb zu behaupten und weiterzuentwickeln, das kann zur Herausforderung werden. Für Schauspielerinnen gilt diese Ambivalenz in besonderem Maß, denn auf zwei männliche Rollen kommt im klassischen Kanon höchstens eine weibliche. Und die ist oft von Leiden und Sterben geprägt. Entweder wird die junge Schauspielerin als Gretchen einem männlichen Selbstverwirklichungsprojekt geopfert, oder sie stirbt – Johanna – als Märtyrerin für die gerechte Sache. Politisch wie karrieretechnisch sind die Grenzen der Menschendarstellung für Schauspielerinnen ein Ärgernis. Zum Glück finden sich in der vielgestaltigen Theaterlandschaft auch für Spielerinnen immer mehr Räume, ihr künstlerische Potential zu entfalten.

JUDITH ROSMAIR
Die Theatermacherin Judith Rosmair staunte bei ihrem ersten Festengagement am Theater Bochum über die Formulierung im Vertrag, sie sei „gegenüber der Regie weisungsgebunden.“ Während der Ausbildung in Hamburg und New York hatte sie eine andere Utopie entwickelt, erzählt sie. „Theater, das war für mich Improvisation und kollektives Arbeiten.“ Aus dem Tarifvertrag NV Bühne spricht eine etwas andere Auffassung der Rolle des Spielers und der Spielerin im Betrieb. Regisseure und Intendanten, die hierarchisch arbeiten, verlangten von Judith Rosmair immer wieder echte Tränen. Sie demonstrierten Macht, zuweilen auch sexistisch gefärbt. Judith Rosmair hat ihre Utopie dennoch im Auge behalten. Bei Regisseuren wie Nicolas Stemann, Falk Richter, Wajdi Mouawad oder Angela Richter fand sie Arbeitskontexte, in denen sie mitgestalten konnte. Der Weg zum Schreiben passierte stufenweise. Mit dem bulgarischen Regisseur Teddy Moskow hatte sie 2005 den „Klein Zaches als sexistischen, bösartigen Gnom, als eine Art Trump“ erfunden. 2012 kündigte sie ihr Festengagement, kreierte fortan auch Performances und Songs. „Inspiriert von Beuys erweitertem Kunstbegriff, verstehe ich meinen Beruf als den einer Theatermacherin, nicht nur als Spielerin“ sagt sie. „Als Künstlerin möchte ich Grenzen überschreiten, vor allem meine eigenen.“ Selbst schreiben, das passierte auf ihrem Weg en passant: Rosmair schrieb den Monolog des Dienstmädchens Dorine in Dimiter Gotscheffs „Tartuffe“-Inszenierung. „Ich wollte diesem Underdog eine starke Stimme geben. Herausgekommen ist ein Wutmonolog In Alexandrinern.“ In die Kategorie erweitertes Rollenspektrum fällt auch Rosmairs Musikvideo „Ausländer rein“. Mit sichtlichem Spaß an der Verwandlung gab Judith Rosmair hier den quirligen Glam-Proll, eine subversive Phantasiefigur. Und hat weitergetextet. Mit „Curtain Call!“, dem Monolog einer schlaflosen Schauspielerin in der Nacht vor der Premiere schrieb sie im Jahr 2015 eine Art Meta-Rolle. Der Part der Anna Karenina verknüpft sich mit Erinnerungen an die Kindheit, an die Mutter, die ihr zuerst aus dem Roman vorlas. Assoziationsfragmente türmen sich zum komplex komponierten Stoffberg. Unterschiedliche Werkzeuge und Quellen werden erkennbar: Literatur, eigene Erfahrungen, Phantasien, verwoben zu einem wunderbar poetischen Knäuel, einer Partitur. In der Inszenierung, die vom Posaunisten Uwe Dierksen musikalisch gestaltet ist, spielt sie durch, wie Verdichtung funktioniert. Schreiben und Spielen, das gehört in Judith Rosmairs Selbstverständnis inzwischen zusammen. Für die eine Disziplin schöpft sie aus dem Fundus der anderen. Aktuell entsteht so der Virtual-Reality-Film „Bye Bye Bühne“. Rosmairs Hommage ans Theater soll beim Kunstfest Weimar 2021 uraufgeführt werden.

EVA LÖBAU
Auf die Theaterauffassung kommt es an. Auch die Schauspielerin Eva Löbau sucht in ihrer Arbeit ein Schauspielertheater anderen Typs. Man habe sie mit der Rolle des Gretchen ködern wollen, als sie nach der ersten Spielzeit ihr Engagement am Stadttheater kündigte, erzählt sie kopfschüttelnd. Missverständnis! „Es kommt ja nicht auf eine bestimmte Rolle an, sondern auf Künstlerpersönlichkeiten, mit denen ich zusammenarbeiten will“ sagt sie. An Löbaus Portfolio springt das außergewöhnliche Spektrum ins Auge. Diese Schauspielerin ist ganz ausdrücklich keine Marke. Stattdessen spielt sie in vielfältigen Off-Theater-Projekten mit, steht auch mal für Unterhaltungsfernsehen bereit, ist auf großen Theaterbühnen zu sehen. Zuletzt an den Münchner Kammerspielen unter der Intendanz von Matthias Lilienthal. „Dort wurde auf das Selbstverständnis der Ensemblemitglieder gesetzt, Künstlerin und Künstler zu sein. Ausloten, was im Zusammenspiel geht, an den Grenzen zwischen bildender und darstellender Kunst, das interessiert mich.“ Auch Eva Löbau hatte sich nach unbefriedigenden Anfängen in hierarchischen Strukturen zu neuen Ufern aufgemacht, wie sie per Zoom erzählt, sich etwa über die Filmakademie Ludwigsburg mit dem Filmemachen befasst. Inzwischen ermittelt sie als Franziska Tobler im Schwarzwald-Team des Tatorts. Selbst recherchieren und schreiben, langer Vorlauf, wenig Vorstellungen, das täglich Brot der kollektiven Arbeitsweise im Off-Theater ist kräftezehrend, bietet dafür künstlerische Freiheit.
Im Gespräch stoßen wir immer wieder auf die Trennlinie zwischen Kunst und all dem anderen, was den Laden sonst am Laufen hält. Kunst bedeute, Neues zu erzählen, das Bekannte auf seinen Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen, Erwartungen zu unterlaufen, sagt Löbau. Als langjähriges Mitglied der Performancegruppe Die Baierishe Geisha, die in ihren Anfängen Inspiration aus den Gegensätzen und Gemeinsamkeiten zwischen bayrischer und japanischer Kultur zog, liest sie mit ihren Mitstreiterinnen aktuell den japanischen Essay „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder.“ Eine alte Frau passt nicht mehr ins Bild, weil ihre Zähne zu gut sind. Egal, was sie tut, um Akzeptanz zu finden, sie hat keine Lobby mehr, erzählt Löbau. Und es wird klar, dass es dieser Künstlerin um Inhalte geht, um das Sprengen von Formaten. Geteilte Autorschaft ist ihr bevorzugtes Arbeitsprinzip. Und die ist nun mal im Off-Theater derzeit weiter verbreitet, als in den etablierten Strukturen.

ANNE HAUG
Dass sich auch manche großen Bühnen bewegen, davon profitiert gerade die Off-Theater gestählte Schauspielerin und Autorin Anne Haug. Seit 2013 trainiert die Schweizerin mit ihrer Kollegin Melanie Schmidli als Künstlerinnenduo Projekt Schooriil an den Berliner Sophiensaelen unterschiedliche Muskelgruppen der darstellenden Kunst. Ihre Late-Night-Show, die jeweils unter einem anderen Motto steht, ist Kult: kompromisslose Austreibung von Stereotypen, Erweiterung des Darstellungsspektrums. Jeden dieser Abende haben die „Scheißspielerinnen“ in einer Tour de Force auf die Bühne gezerrt. Auch im Zusammenhang mit dem Feedback dazu sickerte bei Anne Haug irgendwann die Erkenntnis durch, neben dem komischen Spiel könne ihr auch das Schreiben liegen. Auf Anfrage von Kolleginnen und Kollegen entstanden Drehbücher und dann, gemeinsam mit dem Regisseur Antú Romero Nunes die Fassung von „Neverland.“ Am Thalia Theater wurde das Stück als komplexes Meisterwerk gefeiert. Inzwischen wird Anne Haug von S. Fischer vertreten. Mit der Betreuung durch das Verlagslektorat geht ein kräftiger Professionalisierungsschub einher, erzählt sie. Mit einem Mal geht es für sie rasant weiter auf dem Weg der schreibenden Spielerin: Seit dieser Spielzeit hat sie unter der neuen Intendanz am Theater Basel eine Doppelrolle gefunden, die ihrer aktuellen Interessenlage entspricht: „Meine Position in Basel als Schauspielerin und Hausautorin ist sensationell.“
Die Wahrnehmung ihrer Person habe sich in der Szene entscheidend gewandelt. Gespräche mit Regisseurinnen laufen anders ab, seit sie eine neue künstlerische Identität entwickelt hat.
Das Schreiben ganz vom Entwicklungsprozess auf der Bühne abzulösen, ist aktuell ein nächster Schritt auf ihrem Weg. Es sei gerade noch zu früh, darüber zu sprechen, wovon ihr nächstes Stück handeln wird. „Ich sammle und recherchiere noch, weiß aber schon, von wo ich losgehe und wo ich in etwa hinwill.“