„Wir treten an gegen die Bühne der Eitelkeit“ notiert Julian Beck 1962 in New York City, „wir wissen zwar noch nicht mit welchen Werkzeugen und wie sie anzuwenden sind, wir sind unsicher, wir haben keine Ideen, sind eine barfüßige Armee aus Versprengten.“ Freimütig formuliert der Mitbegründer des legendären Living Theatre seinen Anspruch, Darstellende Kunst neu zu denken. „Das Theater am Broadway gefällt mir nicht“ schreibt Beck weiter, „Seine Stimmlage ist falsch, seine Manierismen sind unecht, sein Sex ist falsch, geschönte Hollywoodwelt, sauberes Bild, gebügelte Kostüme.“ In den 50er Jahren entwickelt das Künstlerpaar ein anderes Theater. Straße statt Bühne, politische Verantwortung statt Nabelschau.
Im Rahmen des diesjährigen Theatertreffens erschien Julian Becks Textsammlung Das Theaterleben. Das Manifest des Living Theatre auf Initiative Thomas Oberenders erstmals in deutscher Sprache. Es liest sich als Journal der globalen antiautoritären Bewegungen, die auf das Desaster des Zweiten Weltkriegs folgten. Quer durch Europa reist die Künstlertruppe über einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Beck ist dabei. In Gefängniszellen und Garderoben schreibt er mit, was er erlebt, was er denkt und liest. Aus künstlerischen und persönlichen Erfahrungen entsteht beim Lesen die Entwicklungsgeschichte des legendären Living Theatre. 1947 gegründet gegen alles, was auf New Yorker Bühnen zu dieser Zeit zu sehen ist: „Die Malerei von Pollock und de Kooning wies auf ein Leben hin, von dem das Theater noch nichts wusste … Das Problem des Findens, Sortierens, des neu Zusammensetzens… Wir wollten ein Theater für all das.“ Unzählige Zitate und Fremdtexte speist Beck ein, er präsentiert einen wahrhaft wilden Zitatenmix. Der maßgebliche Einfluss aber, das Diktat der Nützlichkeit, stammt von Erwin Piscator.
Ab Februar 1945 hatte die damals sehr junge Judith Malina am Dramatic Workshop bei Piscator in New York Regie studiert. Sie war nachhaltig beeindruckt von der Persönlichkeit und von den Ideen ihres Lehrers. Piscators politischem Anspruch an die Kunst folgen Beck und Malina danach unbeirrt. Theater, so fordern sie, muss sich für die Menschen interessieren. Die Utopie der schönen gewaltlosen Revolution hat sich nicht erfüllt. Ästhetisch aber hinterließ das Living Theatre tiefe Spuren, zunächst vor allem in der freien Theaterszene. Die nicht repräsentative darstellende Kunst war in der Dada-Bewegung schon angelegt. Beck und Malina erweiterten sie um das Prinzip der Partizipation.
Beck berichtet in seinem Buch, wie Judith Malina 1964 während einer Benefiz-Veranstaltung für die italienische Theaterzeitschrift Sipario Freies Theater erfand. Auf einem Flyer, der im Garten der Villa unter den Gästen verteilt wurde, stand: „Dies ist Freies Theater. Theater wird von den Schauspielern beim Spielen erfunden. Freies Theater wurde nie geprobt. Wir haben Freies Theater versucht. Manchmal gelingt es nicht. Nichts ist immer das Gleiche.“ Die Performer bewegten sich im Beisein der plaudernden Menge stumm auf der Bühne. Irgendwann fühlte das Publikum sich provoziert, weil ihm nichts geboten wurde. Es begann zu pöbeln und dann kam die Polizei. In seinen späteren Produktionen wollte das Living Theatre genau das erreichen: Das Publikum sollte nicht im Sessel sitzen, sondern aufstehen, selbst zum Akteur werden, seine Kraft erleben.
Kunst muss über die eigene Rolle im System nachdenken, findet Beck. „Irgendetwas ist schief wenn picassos gemälde und schönbergs musik auf den wappen der macht elite prangen.“ Beck und Malina orientieren sich nicht an der Elite, sondern an den Ärmsten der Armen. Vor den eiternden Augenhöhlen eines mexikanischen Straßenjungen, vor dem sie einmal aus Scham über die eigenen Privilegien geflohen sind, wollen sie bestehen.
Nach 1966 ist das Living Theatre weltberühmt. Wo es in seine Produktionen zeigt, in Italien, Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweden, schlägt es ein. So etwas hat man noch nicht erlebt! Ein Stück wie The Brig provoziert mit radikaler, nervenaufreibender Performance. Vom stupiden Drill in einem Militärgefängnis wird nicht erzählt, er wird reenactet und somit erlebbar gemacht. Die Energie der stampfenden Soldaten überträgt sich aufs Publikum. Und die ineinander verschlungenen nackten Körper in Paradise Now stiften zur Liebe an. Make Love Not War!
Im Bewusstsein selbst bourgeois zu sein, lebt und schreibt Beck in seinem Buch gegen die Widersprüche seiner Existenz an, gegen die Ausbeutung der Massen, die Ausbeutung der Erde, die Ausbeutung als allgemeine Matrix seiner und unserer Zeit. Das Living Theatre ist die moralische Anstalt der Moderne. Seine ästhetischen Mittel hat es zu diesem Zweck rundum erneuert: „Etwas Nützliches tun. Nur das ist interessant… Dem Publikum dienen, es unterweisen, Staub aufwirbeln, … den Altar umkreisen, die Muskeln bebend vor Lachen, und den Körper spüren, vom Schrecken des Todes erlöst sein, erlöst von der Verwahrlosung durch die Bequemlichkeit.“
Julian Beck. Das Theaterleben. Das Manifest des Living Theatre. Dt. von Beate Hein Bennett und Anna Opel, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2021, 20 Euro.