150 schreiende Menschen flüchten im Pyiama vor einem Sumpfmonster. Szene im Live-Film Projekt „Germany Year 2071“, das die Performancegruppe Nature Theater of Oklahoma derzeit mit Laien in Berlin dreht
Gewalt und Unterdrückung, kaputtes Klima, Revolutionen am laufenden Band. So stellen sich Kelly Copper, 44, und Pavol Liska, 42, Köpfe der New Yorker Performancetruppe Nature Theater of Oklahoma Deutschland im Jahre 2071 vor. Die modernistische Architektur Kölns und die Dauerbaustelle Berlin geben die Kulissen für den Films ab. Wie Jean-Luc Godard in „Alphaville“ nutzen Copper und Liska vorgefundene Szenerien und Alltagsgegenstände und laden sie mit Science-Fiction-Phantasie auf. Der Plot ist fast so geheim wie die Mission der beiden Helden Joseph und Dorothy, Doppelgänger des Künstlerpaars.
Die Künstlergruppe Nature Theater of Oklahoma, hierzulande gefeiert für den so ausufernden wie bunten Mehrteiler „Life and Times“ – der verfremdeten Inszenierung eines mehrstündigen Telefonats auf der Theaterbühne, – wurde 2010 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die Gruppe hat sich in den letzten Jahren dem Medium Film zugewandt. Die beiden Künstler schätzen bei der Arbeit das Unvorhergesehene, das beim ersten Erfinden von Szenen passiert. Im Theater werde all das durch die Proben konserviert und damit zum Teil zerstört. Mit der Kamera sei man schneller, spontaner, beweglicher.
Das Endprodukt Film ist Anlass für die Arbeit, aber nicht das Ziel. Als Kern ihres Schaffens betrachten die beiden vielmehr den Prozess, Recherche und Dialog mit den Beteiligten, all das also, was unterwegs passiert. Partizipatives Live-Film-Projekt nennt sich das Format. Der Theaterbühne entkommen, sind Liska und Copper jetzt auf die größtmögliche Ausweitung der Kunstzone aus. Im letzten Jahr entstand auf ähnlich Weise im Odenwald mit ortsansässigen Akteuren ein Film über die Nibelungensaga.
Mit „Germany Year 2071“, koproduziert von den Berliner Festspielen, der Akademie der Künste der Welt und Impulse Theater Festival laden Nature Theater of Oklahoma zu einem exklusiven Blick in die Zukunft unseres Landes ein.
Die acht Hauptcharaktere werden von Laien aus Köln und Berlin gespielt. Professionalität sei in Europa ein Goldenes Kalb und völlig überschätzt, finden die beiden. Wichtiger seien doch das Interesse an der Arbeit und die Beziehungen, die dabei entständen. Es geht den beiden Performancekünstlern (die das Nicht-Wissen-Wie-Es-Geht von Beginn der Zusammenarbeit im Jahr 1997 an zum Programm erhoben) jetzt, beim Projekt „Germany Year 2071“ darum, die Menschen in den Arbeitsprozess einzubeziehen.
Die öffentlichen Drehs beim Festival Foreign Affairs zu Performance-Events, zu Kunst. Je mehr Leute kommen, desto besser. Die Macher des Nature Theater of Oklahoma fordern, dass jeder die Verantwortung für den künstlerischen Mehrwert des Moments selbst trägt. In der programmatischen Betonung des Prozesses und in der Offenheit für Zufälle unterscheidet sich die Performancekunst wohl am deutlichsten vom traditionellen Theater.
Die radikale Öffnung hat allerdings auch ihren Preis: Wenn beim Dreh mit Publikum 150 kreischende Erwachsene für die Szene „Evacuation in Pyjamas“ in Nachthemden vor dem Haus der Festspiele rückwärts rennen, Kunstnebel in den aufgerissenen Augen, dann erinnert das weniger an Science Fiction oder an die transzendierende Kraft der Kunst, als an eine außer Kontrolle geratene Motto-Party. Egal. Liska bleibt bei der Sache: „Die Kamera möglichst diagonal kreuzen, das wirkt dramatischer“, fordert der Mann mit dem markanten Schnauzer und der Reibeisenstimme seine Statisten auf. Die Kamera hält er auf dem Schoß, Partnerin Copper schiebt ihn ihm Rollstuhl durch die Menge. Es wird improvisiert was das Zeug hält.
Erst die intensive Vorbereitung ermögliche Offenheit für alle Abweichungen vom Plan. „Es geht uns nicht darum, eine Vision umzusetzen. Vielmehr verfolgen und dokumentieren wir, was passiert, wenn Vision auf Produktion und damit auf Ungeplantes trifft.“ Das passt dann wieder zu Uncertainty, dem Motto des Festivals Foreign Affairs und ist ja irgendwie auch eine Metapher des Lebens.
Auf Streifzügen durch Berlin und Köln entdeckte das Künstlerpaar in einem ersten Schritt unzugängliche Orte, in die es eindringen, die es erkunden wollte. Um diese Locations herum – quasi „maßgeschneidert“ – wuchs die Geschichte des Drehbuchs, dessen Plot jedoch weitgehend geheim gehalten wird. Nur einige Details sind bekannt: Köln und Berlin werden im Film jedenfalls zu einem einzigen Ort verschmelzen, Schweine spielen eine Rolle. Im Internet ist ein Blog über die bisherigen Dreharbeiten entstanden.
Am 14. Juli folgt der Dreh zu „The Swamp“ am Görlitzer Parkteich in Kreuzberg und am 16. Juli schließlich – unter dem Titel „The Road“ – der Auszug der Zombies aus der Stadt. Freiwillige und zufällige Passanten sind willkommen mitzuspielen. Entsprechend den zu drehenden Szenen sind folgende Requisiten mitzubringen: Bauschutzhelme, urbane Outfits aus der Zukunft, Stricherklamotten oder Zombie-Makeup. Das klingt schon wieder verdächtig nach Motto-Party. Aber wer weiß? Vielleicht wird es auch große Kunst. Wer sich darauf einlassen mag, kann sich unter Anleitung des Künstlerpaars hier und heute in die Zukunft spielen und dabei Teil eines großen Ganzen werden.