Welcher Mensch denkt mit 37 Jahren schon ans Sterben? Nicht als düstere Suizidüberlegung sondern als tägliche Übung, als gemeinschaftliches Ritual in der Theaterpraxis. Diese junge Frau treibt sowas um. Willkommen im Theater der Susanne Kennedy! Seit ihre verstörend-fasziniernde Inszenierung von Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ vergangenes Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, ist Kennedy so etwas wie der Shooting Star unter den Regisseuren. Die Inszenierung erhielt den mit 10.000 Euro dotierten 3sat-Preis, das Fachblatt „Theater heute“ kürte sie zur Nachwuchsregisseurin des Jahres. Kennedy ist radikal und kompromisslos in ihrer Formsprache, in der Kritik dafür genauso gefeiert wie umstritten.
„Orfeo. Eine Sterbeübung“ heißt nun ihre Lesart der legendären Oper von Claudio Monteverdi, eine Koproduktion der Berliner Festspiele mit der Ruhrtriennale.
In Berlin wird die Arbeit mit Spannung erwartet, denn Kennedy gehört zum Team der zukünftigen Volksbühne unter dem belgischen Museumsmann Chris Dercon. Im Mai war sie mit der Fassbinder-Adaption „Warum läuft Herr R. Amok?“ erneut zum Gipfeltreffen des deutschsprachigen Theaters geladen. Die Silikonmasken, die ihre Schauspieler bereits bei der Fleißer-Inszenierung trugen, sind ein Markenzeichen geworden, aber nicht das einzige. Kennedy experimentiert auch mit Playbackeffekten. Die Stimmen werden aus dem Off eingespielt, während die Schauspieler präzise den Mund dazu bewegen. Entmenschlicht wirken so ihre Figuren.
Kennedy ist die Einzige in Dercons Volksbühne-Team, die vom Sprechtheater kommt, keine echte Beruhigung für alle, die mit dem Leitungswechsel das Abendland untergehen sehen.
Wie tickt diese Frau, die in ihren Inszenierungen die wirksamsten Ausdrucksmittel des Schauspielers von der Bühne verbannt? Freundlich, gänzlich unprätentiös und hochschwanger kommt Kennedy zum Gespräch in ein Neuköllner Café, in dem Bezirk wohnt sie seit gut einem Jahr. Für ihre Antworten nimmt sie sich Zeit. Merkwürdig sei es, mit der Personalie zur Volksbühne plötzlich Teil einer heftigen, von Ablehnung gekennzeichneten Debatte geworden zu sein –, zumal das Haus auch für sie ein wichtiger Ort sei, Castorf ein Vorbild. „Dieses Paradox ist für mich im Moment nicht aufzulösen“, sagt Kennedy nachdenklich.
Nach dem frühen Tod des stilprägenden Bühnenbildners Bert Neumann Ende Juli sei die Sache noch emotionaler geworden. Und was die Pläne angeht, so brauche das Team erst einmal Zeit, sich zu finden. Den Raum, das Neue zu entwickeln, muss es gegen den Druck der Öffentlichkeit verteidigen, die möglichst jetzt schon wissen will, was an der Volksbühne unter der neuen Leitung stattfinden wird.
Aus Amsterdam, wo sie Regie studiert hatte und 13 Jahre lang lebte, nach Berlin gezogen ist sie aber nicht im Hinblick auf den neuen Job, sondern schon zuvor, „wegen der Liebe“. Ihr Freund ist der bildende Künstler Markus Selg. Nach anfänglicher Einschüchterung durch die extreme Hipsterdichte in Neukölln, hat sie sich inzwischen gut eingelebt. Amsterdam war ihr zu klein geworden.
Die Großzügigkeit der Berliner Straßen und Plätze genießt sie nun in vollen Zügen. „Im Winter gehen die großen Räume wieder zu“, sagt sie, „Berlin wird dann zu einer anderen Stadt.“
Wie zugezogen, geradezu klaustrophobisch, erscheinen nun auch die Räume in Kennedys installativer Inszenierung „Orfeo“ im Martin-Gropius-Bau. Keine frontale Bühnensituation diesmal, sondern ein Interieur aus acht Kammern, durch die das Publikum in kleinen Gruppen hindurch muss. Aber auch hier flirren die Räume zwischen Allerweltsdesign und einer schwer fassbaren Abweichung: als habe man Räume aus einem Computerspiel in 3D übersetzt, Oberfläche pur und gerade dadurch zum Gruseln. Die Performer einschließlich des Solistenensembles Kaleidoskop agieren während einer Aufführung neun Stunden am Stück. Jede Aufführung: ein Marathon.
Die Zuschauer sind zu Besuch in einer beklemmenden Welt, zu Gast bei gleich mehreren Eurydikes, die wieder Masken tragen. Blond sind sie und in pastell gekleidet. Kritik an einer Gesellschaft der zunehmenden Normierung? Nein, so sei das nicht gemeint. Theater als moralische Anstalt, die kritische Distanz zum Geschehen auf der Bühne, das interessiert Susanne Kennedy weniger. Die in Friedrichshafen geborene Tochter eines schottischen Vaters, dem sie ihren Nachnamen verdankt, versucht einen Ort herzustellen, in dem man Erfahrungen machen könne. In der Faszination und als Konfrontation mit den Figuren. Deren Andersartigkeit ist aus ihrer Sicht eben nicht als Mangel zu interpretieren, eher schon als Geheimnis. Anscheinend hege sie eine „Faszination für diese Bilder und Figuren“.
Das Material der Oper wurde radikal reduziert, die musikalischen Motive und die berühmte Fabel sind auf den Kern eingedampft: Orpheus’ Blick zurück, mit dem er seine Geliebte endgültig an den Hades verliert. Die Inszenierung geht gegen die übliche Deutung dieser Szene an. Loslassen war das Motto, inhaltlich und in der Arbeitsweise: In den acht Räumen wurde simultan inszeniert. Arbeitsteilung war unabdingbar. Das hat Kennedy als „manchmal schwierige Balance“ erlebt, zwischen dem Bedürfnis die Kontrolle zu behalten und zuzulassen, was in den Räumen nebenan geschieht. Susanne Kennedy ist glücklich über die gute Zusammenarbeit, an der auch ihre Weggefährtinnen Suzann Boogaerdt und Bianca van der Schoot beteiligt waren.
Nach anfänglichen Fragezeichen, wie sie ihr Arbeitspensum weiterhin bewältigen
könne, sieht Kennedy dem zukünftigen Leben mit Kind inzwischen gelassen entgegen.
Ihre Projekte kann sie sich ja einteilen. Nächstes Jahr steht bereits das nächste Familienprojekt an: eine gemeinsame Arbeit mit Markus Selg bei der Ruhrtriennale. Und 2017 dann der Neustart der Volksbühne.
„Orfeo. Eine Sterbeübung“. 18.9.-4.10.,
10-19 Uhr (Einlass alle 10 Minuten),
Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7,
Kreuzberg. Eintritt 18 Euro