Mein Text blutet

Sivan Ben Yishai über den Krieg, der im Kopf stattfindet, und die Waffen der Opfer
Die israelische Dramatikerin hat keine Scheu, ihr Publikum frontal mit krassen Szenerien zu konfrontieren. Von Krieg und Unrecht sprechen, Widersprüche aufzeigen. Den Saturierten den Spiegel vorhalten. Das ist ihr Programm.
Bei öffentlichen Auftritten und während unseres Kennenlernens in einem Café in Berlin Mitte besticht vor allem die intellektuelle Reife ihrer Reflexionen. In ihrer Heimat Israel hat Ben Yishai als Regisseurin gearbeitet. Seit gut fünf Jahren lebt sie in Berlin. Hier schreibt sie in englischer Sprache Stücke für das Theater und wird inzwischen von Suhrkamp vertreten. Seit ihrem Auftritt bei den Autorentheatertagen 2017 wird sie als wortgewaltige Stimme der zeitgenössischen Dramatik gehandelt. Ihre Tetralogie Let The Blood Come Out To Show Them setzt sich mit subtilen gesellschaftlichen Mechaniken auseinander, die Machtverhältnisse zementieren.
Teil 3 „Papa liebt dich“ wird an diesem Wochenende uraufgeführt.

der Freitag: Ihr neuer Text „Papa liebt dich“ beginnt mit einer feministischen Utopie, der hell leuchtenden Endstation des düsteren Zugs der Geschichte. Fröhliche Frauen auf Fahrrädern, die errötende Männer auf ihren Gepäckträger herumfahren. Haben Sie das Stück unter dem Eindruck der Sexismus-Debatte geschrieben?
Die Me-Too-Debatte läutet die letzte Station des Zuges in „Papa liebt dich“ ein. In diesem strahlenden Utopia stelle ich mir vor, wie frei Frauen sein könnten, ohne den ständig urteilenden Blick auf ihren Körper, ohne die Macht, die von diesem Blick ausgeht. Ich spreche nicht mal von sexuellen Übergriffen, sondern von Gewohnheiten, davon, wie sich Männer zum Beispiel in einem Zugabteil breit machen und davon, wie sie als Autoren und Regisseure das Repertoire der Theater dominieren und das Filmgeschäft. Vor 20 Jahren war ich selbst damit einverstanden, all diese Dinge zu übersehen und so zu tun, als wäre nichts.

Wie gehen Sie als Künstlerin mit diesen Realitäten um?
Es gibt immer den Konflikt, auf der Bühne nicht noch mehr Frauen zu zeigen, die getötet oder vergewaltigt werden, nicht noch mehr Material für dumme Witze zu liefern. Andererseits ist es wichtig, genau hinzusehen und lebhafte und interessante Frauen in Hauptrollen zu zeigen. Frauen, die etwas in Frage stellen, Frauen, die zweifeln und denken. Frauen, die stark sein dürfen und verletzlich. Weil sie nicht ständig in eine der Schablonen gepresst werden, die für Frauen in der Menschheitsgeschichte reserviert waren: die lächerliche Alte, die mit dem Sexappeal, die Hysterikerin und so weiter.

Mit ihrem vorigen Stück, der Geschichte vom Leben und Sterben des Neuen Juppi Ja Jey Juden rebellieren Sie dagegen, als Vorzeige-Immigrantin instrumentalisiert zu werden. Worum ging es Ihnen genau?
Es geht darum, einen Deal auszuhebeln, der mich mundtot machen kann: Mir wird die Rolle desr Anderen angeboten und wenn ich die Erwartungen brav erfülle, die daran geknüpft sind, wird mir im Gegenzug ein Platz in der Gesellschaft zugewiesen. Diesem System versuche ich zu widerstehen. Ich frage mich: Was macht das mit mir? Und wer profitiert eigentlich davon?
Als jüdisch-israelische Immigrantin bin ich mit dieser Mechanik jedenfalls sehr vertraut. Mit der Rolle der Immigrantin kann ich irgendwie noch umgehen, was die Rolle der Frau angeht, ist es für mich komplizierter.

Inwiefern?
Ich stelle fest, dass es mir immer schwerer fällt, diese spezifische Erwartung zu erfüllen. Ich kann nicht fassen, wie wenig Raum die Perspektive von Frauen im Jahr 2018 in der Öffentlichkeit immer noch hat. Wie soll sich das ändern, wenn die Erwartungen an Frauen sehr oft darin bestehen, dünn und mysteriös zu sein?

Der erste Teil Ihrer Tetralogie Your Very Own double Crisis Club ist ein Klagelied, Jippie Ja Jey Jude eine unkonventionelle Dankesrede. Warum sprechen Sie in Ihrem neuen Stück das Publikum nicht ebenso direkt an?
Zuerst dachte ich auch, mein nächster Text würde die Serie fortsetzen. Danke, Bitte und dann vielleicht eine Entschuldigung. Das Schreiben folgt aber dem eigenen Plan. Außerdem durchbreche ich gern meine selbst aufgestellten Regeln, um zu sehen, was strukturell passiert. Papa liebt dich ist ein Zopf, geflochten aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunftshoffen. Drei Stränge, die jeweils einer Generation angehören und ihre je eigene Welt ins große Bild tragen. Der wütende Monolog einer Tochter, das stumme Schauen auf die Vergangenheit und ein frohes Hoffen auf eine freiere Zukunft.

Im Text gibt es zentrale Bilder, von denen Assoziationen ausgehen, die immer dichter ineinander greifen. Eine Reihe Königinnen in einem Zug, eine Tochter wird Zeugin, wie der Vater die Mutter mit einer vernichtenden Bemerkung demütigt, ein kleines Mädchen, vor einem Foto nackter Frauen, kurz vor ihrer Erschießung durch die SA. Wie geht das alles zusammen?
Erst sind wir im Zug und bleiben eine ganze Weile bis ein neuer Raum geboren wird: die Vergangenheit. Da ist der Missbrauch, den das ICH den Königinnen im Zug antut, indem es sie schonungslos betrachtet, der Missbrauch der nackten Frauen durch die Waffe, und der Missbrauch, den der Vater begeht. All diese Motive komponiere ich, während ich schreibe, zu einem dialektischen Solo für endlose Stimmen. Der Zug und die Vergangenheit, dazwischen die kollektive Erinnerung an den Krieg. Sie verbindet mich mit dem deutschen Publikum, auch wenn wir aus unterschiedlichen Perspektiven darauf schauen.

Ist der Zopf auch so etwas wie eine persönliche Bestandsaufnahme?
In meinem Schreiben versuche ich, meinen Platz in der Gesellschaft, meine eigenen Erfahrungen zu erforschen, um so einen präzisen, einen politischen Blick auf aktuelle Themen zu bekommen. Jedes Wort ist absolut persönlich. Und wenn ein Text einen derart intimen Geruch verströmt, wenn er blutet, fordert er eine besondere Behandlung ein. Ich schreibe über Dinge, die mir sehr nah sind, weil ich weiß, dass die Schauspieler und die Regie so einen persönlichen Zugang finden können. Das ist meine Art, das System herauszufordern. Ich mag es, wenn ich gefragt werde, ob es wahr ist, was ich da schreibe. „Natürlich,“ sage ich dann, „es ist überall und immer wahr.“

Im Stück ist der Zug zunächst ein banales Verkehrsmittel. Erst als die Vergangenheit dämmert, wird er zum Symbol des Holocaust.
Meine Texte sind so etwas wie zerrissene Collagen. Die Zusammenhänge stecken in der allgemeinen DNA, die ich in diesen Bildern entdecke. Und ich weiß, wie kompliziert es ist, einen neuen Gedanken in ein Gehirn zu kriegen. Deshalb die Wiederholung. Ich bestehe auf dem Setting, indem ich es immer wieder benenne. Ich bestehe auf dem Zug. Wer dabei nicht an den Holocaust denkt, na, gut. Aber der Zug kommt wieder. So funktioniert mein Schreibprozess.

Was bedeutet der Titel der Tetralogie? Let The Blood Come Out To Show Them, was hat es damit auf sich?
Der Titel zitiert eine Arbeit des amerikanischen Komponisten Steve Reich, der nach den Ereignissen um die „Harlem Six“ im Jahr 1964 eine Tonaufnahme von Daniel Hamm zu einem Loop verarbeitet hat. In Harlem waren damals sechs schwarze Männer zu Unrecht für den Mord an einer weißen Frau inhaftiert worden. Daniel Hamm öffnete auf der Wache seine Blutergüsse, weil man ihm nicht glauben wollte, wie heftig er im Gefängnis geschlagen worden ist. Er verlangte, dass die Polizisten sich die Wunde anschauen. Um dieses Paradox geht es mir vor allem: die Bereitschaft, sich ausgerechnet denen zu zeigen, die einen verwundet haben und aus der Wunde die Quelle der eigenen Macht werden zu lassen. Es muss wehtun. Wir müssen hinsehen. Unter dem Lupenglas verbrennen Ideen und Körper, es gibt keinen anderen Weg. Und die Tetralogie will das erreichen. Die Wunden öffnen, damit das Blut sichtbar wird.

Wovon wird der letzte Teil handeln?
Im Moment schreibe ich für „Krieg im Frieden“, ein neues Projekt vom Gorki, dem LCB und der Robert-Bosch-Stiftung. Vier DramatikerInnen schreiben über den fragwürdigen Frieden in ihren Heimatländern Ukraine, Türkei, Israel und Deutschland, der eigentlich ein totgeschwiegener, ein kultivierter Krieg ist. Es ist ein Krieg, den wir nicht unbedingt sehen, weil er in einem Menschen tobt, der mir gegenübersteht. Oder er betrifft einen Menschen, auf den eine Bombe im Gazastreifen fällt, nur 50 Kilometer entfernt, während ich in Tel Aviv meinen Kaffee trinke. Während ich Metaphern wie Hitze und Feuer benutze, will eine Stimme in mir wissen, woher diese Bilder eigentlich kommen. Schließlich tobt der Krieg nicht vor meinem Fenster, schließlich bin ich noch nie aus einem brennenden Haus geflohen. Im Disput dieser Stimmen stecke ich gerade. Und wer weiß, vielleicht schließt dieser Text die Tetralogie ab.