Du bist der Nächste

Das Performing Arts Festival Pazz in Oldenburg arbeitet sich an der Faszination des biographischen Erzählens ab

tdz-09-2012

Kann eine biographische Erzählung lügen? Erwächst der Eindruck von Authentizität vielleicht aus dem Wunsch des Betrachters, Person und Geschichte zu einer stimmigen Einheit zusammenzuführen? Coffee & Prejudice, eine Arbeit der Schweizer Performancegruppe Mercimax, präsentiert im Rahmenprogramm des Oldenburgischen Performing Arts Festival PAZZ, schickte den Besucher in eine irritierende Situation. Einer Fremden an einem kleinen Tisch gegenübersitzen, während die Stimme aus dem Kopfhörer Erschütterndes über die Biographie dieser Person erzählt. Hat sie wirklich einen Mord begangen? Im Programm des diesjährigen Pazz Festivals fanden sich einige Arbeiten, die sich an der Faszination des biographischen Erzählens und der Idee von Authentizität abarbeiteten, ohne auf Voyeurismus auszuweichen. Die kanadische Gruppe Mammalian Diving Reflex präsentierte eine offenherzige Recherche zum Thema private life. All the Sex I’ve ever had, koproduziert vom Oldenburgischen Staatstheater, lässt zwölf Senioren, davon neun Frauen, in einer Konferenzsituation Auskunft geben über die unzähligen Reinfälle, Demütigungen und die raren lustvollen Momenten ihres Liebeslebens. Kunstanspruch im Sinne einer Stilisierung steht bei diesem Projekt deutlich im Hintergrund. Die Qualität der Arbeit zeigt sich stattdessen im behutsamen Umgang mit den Geschichten und Persönlichkeiten, die zu Wort kommen. Dass und wie die Protagonisten ihre Geschichten selbst erzählen – ungekünstelt, schlicht, stolz – spielte eine große Rolle für die Kraft dieser Performance. Die Künstler sorgen für den Rahmen, in dem das biographische Material sich entfalten kann, die Laiendarsteller behalten die Kontrolle über ihre eigenen Geschichten. Der britische Künstler Mem Morrison präsentierte mit seiner aufregenden Produktion Ringside ein biographisches Erzählen, das die analytische Distanz zu schmerzhaften Erfahrungen der Kindheit gerade über die souveräne Stilisierung von vorgefundenen formalen Elementen herstellte. Es handelt sich bei dieser Arbeit um den letzten Teil eines mehrteiligen Projektes, in dem Morrison neuralgische Punkte seiner Identitätsfindung als homosexueller Engländer mit türkisch-zypriotischen Wurzeln künstlerisch aufarbeitete. In Ringside erinnert Morrison sich an ein Hochzeitsfest, zu dem der Zwölfjährige von seinen Eltern mitgenommen wurde. Im trauten Kreise der Familie, inmitten symbolträchtiger Rituale, wird dem Jungen die Unverträglichkeit zwischen den Erwartungen und seinem Anderssein schockartig bewusst. „Du bist der Nächste“, dieser Satz schwirrt wie ein Mantra durch den Raum. Wie Morrison die zypriotische Musik aufruft, wie er tanzt und singt und spricht, den kleinen Plastikbräutigam von der Hochzeitstorte als Astronaut durch den Tanzsaal fliegen lässt und sich am Ende in den endlos langen weißen Tischdecken verstrickt, um den Abend als Braut zu beenden, das sind atemberaubende Bilder, die eine universelle Geschichte erzählen von der unausweichlichen Suche nach dem eigenen Weg. Neben den genannten herausragenden Arbeiten gab es bei PAZZ weitere Koproduktionen zwischen dem Oldenburgischen Staatstheater und Akteuren der internationalen freien Szene zu sehen. Die mehrsprachige Arbeit der andcompany, der (kommende) Aufstand nach Friedrich Schiller beispielsweise schlug frech und frisch, aber nicht ganz überzeugend den Bogen zwischen Schiller und der Occupybewegung. Der Anspruch, noch nicht etablierte Künstler zu begleiten und zu fördern, löste sich in der Werkschau des jungen britischen Audiokünstlers Ant Hampton ein. Quiet Volume und Ok Ok, zwei Leseperformances, boten einen Einblick in das noch nicht ganz ausgereifte Konzept, die Gedanken eines lesenden Zuschauers anzuleiten. Der künstlerische Leiter Thomas Kraus stellte bei der Abschlussdiskussion das Profil von PAZZ als Arbeitsfestival heraus, das in erster Linie auf längerfristige Kooperationen mit freien Gruppen aus ist. Abgesehen vom Schwerpunkt des biographischen Erzählens war bei PAZZ denn auch weniger eine thematische Linie zu erkennen, als die Bereitschaft, die Randlage der Stadt Oldenburg durch den Austausch und die kontinuierliche Zusammenarbeit mit Akteuren der Freien Szene auszugleichen. Neben PAZZ findet in Oldenburg regelmäßig das Theaterfestival Go West statt. Der Schwerpunkt liegt dort auf dem künstlerischen Dialog mit Gruppen aus Flandern und den Niederlanden. Die Offensive des Oldenburgischen Staatstheaters in Richtung freier Gruppen ist zunächst künstlerisch produktiv. Zwischen den Zeilen erzählt sie auch etwas von weitblickender Spielplangestaltung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.