Das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz entwickelt sich seit Langem als spartensprengendes Theater: Heute zeigen hier mit Florentina Holzinger und Constanza Macras wichtige Choreografinnen ihre Werke (Die Deutsche Bühne 06/2023)
Sprechtheater und Konzerte und Tanz, auf der großen Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist der Spartenmix seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich. Als Theater der Autorinnen begreift sich die Volksbühne am Rosa Luxemburg unter der Intendanz von René Pollesch and Friends. Aber nicht missverstehen! Autorschaft bezieht sich nicht etwa auf Dramatik, also für die Bühne geschriebene Texte. Pollesch verwendet einen erweiterten Begriff, wie im postdramatischen Zeitalter üblich: Alle kreativen Akteure in der Darstellenden Kunst sind gleichberechtigte Autoren und Autorinnen, deren Stile und Erfindungen den Abend ausmachen. Schauspielerinnen und Tänzer sind Autoren, Bühnenbildner und Regisseurinnen. Mit der Ausweitung dessen, was wir unter Autorschaft verstehen, geht eine Offenheit gegenüber anderen Sparten einher. Choreografinnen arbeiten zunehmend mit Schauspiel-Elementen, Sprechtheaterregisseure mit rhythmisierten Schrittfolgen.
An keinem Sprechtheater in Berlin wird so viel getanzt, wie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Konzeptionell dazu äußern mag man sich am Haus nicht. Und das ist vielleicht konsequent, wenn auf Autorschaft gebaut wird. Neben Costanza Macras, die mit ihrem Ensemble DorkyPark seit Jahren eine feste Größe am Haus ist, stehen seit letzter Spielzeit auch Arbeiten der Wiener Choregraphin Florentina Holzinger auf dem Spielplan der größten Sprechtheaterbühne der Stadt. „Ophelia’s Got Talent“, die beherzte feministische Überschreibung des Ophelia-Mythos ist der Knaller der Saison. Talentshow, Zirkus, Tanz, Sprechtheater. Der Abend macht vor kaum einer Variante der darstellenden Kunst Halt. Und fast alles ist echt. Kein Als-Ob, keine Psychologie, keine durchgängige Erzählung, sondern Liveperformance, echte Nacktheit, echtes Schlucken von echten Schwertern, echtes Blut quillt aus Holzingers Wange, nur der Unfall beim Unterwasser-Entfesselungstrick ist gefaket. Holzinger spielt ohne Grenzen. Vieles scheint möglich nach diesem Theaterabend.
Pollesch habe sie mit den technischen Möglichkeiten dieser Bühne überzeugt, nach Berlin zu kommen, hatte Holzinger Wochen auf einer Pressekonferenz vor der Premiere erklärt. Diese Möglichkeiten hat sie weidlich genutzt. Für eine orgiastische Hubschrauberszene fünf Meter über der Bühne. Kunst sei dazu da, groß zu sein, hatte Holzinger einem Kritiker entgegnet, dem die Kosten der Produktion übertrieben vorkamen. Mit ihrer entgrenzten Version der „Göttlichen Komödie“ hatte die Wienerin in der letzten Spielzeit ihr Debüt an der Volksbühne gegeben. „A Divine Comedy“ wurde von einem nackten Frauenensemble unterschiedlichen Alters gespielt, getanzt und gehackt: Himmel und Hölle nicht säuberlich getrennt, ineinander verwoben im Jetzt und Hier. Fallübungen, Sterbeübungen, Erprobung neuer Rituale, Motorräder, die über die Bühne Brettern, dazwischen auch ein wenig Kitsch. Und kalkulierte Gefahr. Die nackten Spielerinnen trugen Skelette als memento mori auf ihren Rücken. Die Frage nach Sparten erübrigt sich bei einer derart assoziativen dranaturgischen Struktur. Die physische Seite unserer Existenz steht im Zentrum dieses Theaters.
Weniger drastisch, dafür äußerst temporeich und leicht sind die Tanztheaterabende, die Choreografin Constanza Macras und ihr Ensemble DorkyPark an der Volksbühne zeigen. Ein aus Spielenden, Musizierenden und Tanzenden collagiertes Ensemble, das in rascher Folge Welten und Landschaften entstehen lässt, sie wegwischt und unermüdlich immer neu und anders aus dem Hut zaubert. Macras’ Tanzabende sind Festivals des Sehens, atemloses Staunen darüber, was Tanz sein kann. Für „Drama“ dampft Macras Shakespeares gesammelte Werke auf Sekundenszenen zusammen, später wird auch „Antigone“ in Kurzform getanzt. Das Ensemble dehnt typisch Menschliches wie Eifersucht, Mord und Pubertät im Playmobil-Haus mit steifen Plastikbewegungen. Wiedererkennbare Bilder aller Genres, ob Soap oder Tragödie, werden hier in rasendem Tempo zusammengeschnitten. Das Ensemble von ist atemberaubend agil, schon fragt man sich, wer dieser Leute sind, schon wird im zweiten Teil des Abends das Show-Biz selbst zum Thema. Das Drama dhinter den Kulissen: von prekären Arbeitsbedingungen und Machtverhältnissen wird berichtet. Geschundene Körper torkeln die Showtreppe hinab, Erzählungen von Konkurrenz und Schmerz machen die Runde. Und schon geht’s weiter: alles für die Kunst, für uns, das Publikum. Macras und Holzinger scrollen sich durch den Feed der Bildwelten. Absolut zeitgemäß, denn genau so, als Ineinander von Disparatem nehmen wir wahr, was uns von so vielen Screens und Prints entgegenschaut.
Die Volksbühne hat eine Geschichte mit dem Tanz. Bereits unter Frank Castorf produzierte Johann Kresnik, neben Pina Bausch Erfinder des modernen Tanztheaters in Deutschland, ab Anfang der 90er Jahre sein „choreografisches Theater“. Es ging ihm darum, Tanz und politisches Theaters zu verbinden. Revueartige Produktionen wie „Rosa Luxemburg – Rote Rosen für dich“ (1993) waren damals neu. Auch die US-Amerikanische Choreographin Meg Stuart lotete mit ihren Damaged Gods auf dieser Bühne die Grenzen zwischen Tanz und Theater aus. Von Beginn der Ära Castorf an entwickelte sich die Volksbühne im postdramatischen Sinne immer konsequenter zum Autorentheater, war stärker auf Themen fokussiert als auf Konventionen bestimmter Formen. Castorfs politisch inspirierter Zugriff auf literarische Stoffe, sein Talent für die Arbeit mit Schauspielern, seine Offenheit gegenüber prägenden Künstlerpersönlichkeiten, das alles verschmolz hier – mehr als anderswo – mit Themen. Für Christoph Mahrtaler, Christoph Schlingensief und René Pollesch, andere prägende Regisseure dieser Ära gilt das – wenn auch mit völlig anderen Ergebnissen – ebenfalls. In dieser Hinsicht fügen sich Macras‘ und Holzingers prägnante Positionen im Tanz stimmig die Tradition des Hauses.