Das Kinderkriegen ist der neuralgische Punkt, an dem neue Ideen gefragt sind

Interview mit der Schauspielerin und Regisseurin Saralisa Volm über ihr Buch „Das ewige Ungenügend- Eine Bestandsaufnahme des weiblichen Körpers (Berliner Zeitung, Mai 2023)

Sie sind Schauspielerin, Regisseurin und Kunsthistorikerin, betreiben die Produktionsfirma Poison. Wie kamen Sie auf Idee ein Buch über den weiblichen Körper zu schreiben? Das ist aus der Arbeit heraus entstanden. Ich schreibe ja viel, auch für Zeitungen. Als Kunsthistorikerin habe ich mich intensiv mit Frauenbildern und den unterschiedlichen Perspektiven befasst. Wie unterscheidet sich der Male Gaze (männlicher Blick) vom Female Gaze. Als Schauspielerin und Filmemacherin bin ich auch auf Instagram aktiv…

…und dort werden bekanntlich Schönheit und das Streben nach Perfektion zelebriert. Es entsteht ein Wettbewerb, mit dem Sie sich in Ihrem Buch kritisch, aber auch ambivalent auseinandersetzen. Für mein Kunstprojekt 365 Imperfections habe ich ein Jahr lang jeden Tag einen Fehler gepostet oder etwas Misslungenes als Gegenprogramm zu diesem Konzept der Makellosigkeit. Im Jahr 2018 habe ich mit Britta Adler die Ausstellung Bitch MATERial initiiert, da ging es um Mutterschaft. In dem Zusammenhang habe ich in verschiedenen Medien über meine Brüste geschrieben, auch über Brüste im Allgemeinen. Ich hatte also schon einen großen Fundus an Material zu Körperbildern. Und ich hatte einen Ton gefunden, wie ich über meine Erfahrungen schreiben kann.

Im Buch mischen Sie persönliche Erfahrungen mit Analysen zum weiblichen Körper als Objekt von Macht. Sie zitieren aus einem breiten Spektrum an feministischer Literatur der letzten Jahre. Es gibt eine Menge spannendes Material. Wenn man sich mit feministischer Kunst der 60-er, 70-er und 80-er Jahre befasst, stellt man fest: Vieles von dem, was damals geschrieben wurde, könnte heute noch genauso gesagt werden. Im Zahlenvergleich merkt man, dass sich Dinge verbessert haben. Frauen sind öfter berufstätig, verdienen mehr, haben Führungspositionen. Trotzdem sind die Prozesse äußerst langwierig. Zum Weltfrauentag in diesem Jahr ließ die UNO verlauten, dass wir bis zur vollständigen Gleichberechtigung noch 300 Jahre brauchen, wenn wir das aktuelle Tempo beibehalten. Jedenfalls stehen wir mit unseren Fragen und Ansätzen in einer sehr langen Tradition. Performative Sachen, die ich heute krass finde, haben ihren Ursprung vielleicht schon bei den Suffragetten. Auch darüber schreibe ich in meinem Buch.

Welche Erkenntnis hat Sie während der Arbeit am Buch am meisten überrascht? Für mich war wichtig zu erkennen, dass viele der Dinge, die uns quälen und für die wir uns schämen, die wir in unserem stillen Kämmerlein als singuläre Probleme wahrnehmen, eigentlich epidemisches Ausmaß haben. Das zu erkennen war für mich befreiend. Unzählige Statistiken zu Gewalt gegen Frauen oder zu sexuellen Fragen bestätigen das. Das Ausmaß ist zwar fürchterlich, aber ich bin nicht alleine. Nicht nur ich bin vergewaltigt worden, nicht nur ich bin zu blöd, einen Orgasmus zu haben. Es gibt tatsächlich eine strukturelle Situation dahinter und Benachteiligung. Wenn die Probleme strukturell sind, können und müssen wir sie angehen. Zu vielen dieser Themen gibt es Forschung.  

Feministische Forderungen für mehr Gleichberechtigung kennen wir seit den 70-er Jahren.  Trotzdem scheint es so zu sein, dass jede Frau den Prozess der Bewusstwerdung und Aufklärung neu und individuell durchlaufen muss. Absolut. Deshalb dauert das alles auch so lange. Außerdem ist es ja auch nicht das einzige Problem, das wir wälzen. Ich würde mich zum Beispiel lieber mit historischen Themen befassen, mit Revolution oder Kolonialismus. Feminismus ist überhaupt nicht mein Lieblingsthema. Aber durch die Grenzen, an die ich beim Filmemachen und sonst im Leben immer wieder stoße, werde ich gezwungen, mich zusätzlich zu allem anderen ständig als Frau zu positionieren. Gleichberechtigung ist erst dann vollständig da, wenn das wegfällt. Solange Frausein Thema bleibt, recherchiere ich dazu, stelle fest, es gibt umfangreiches Wissen über die strukturelle Benachteiligung von Frauen und andere marginalisierte Gruppen. Und das will ich mit meinem Buch zugänglich machen.

Sie sind beruflich und privat erfolgreich, sie sind sichtbar in der Öffentlichkeit und den Sozialen Medien. Warum sprechen Sie über die Kehrseite der schönen Seite der Medaille? Die Botschaft ist: Ich bin nicht perfekt. Der Schein trügt. Daraus könnt ihr schließen: all die anderen, die so perfekt scheinen, sind es auch nicht. Die millionenfache Perfektion perpetuiert den Druck, der auf uns allen lastet. Mit meinem Buch will ich gegen diesen Druck und das Gefühl, nicht zu genügen angehen, weil es uns lähmt. Auch ich leide unter diesem Druck. Das Vielleisten, das Sie bei mir feststellen, hat seinen Ursprung im Gefühl der Unzulänglichkeit. Ich wünsche mir, dass wir den Druck loslassen können.

Was müssten wir Ihrer Ansicht nach gesellschaftlich erreichen, um diesen Druck abzubauen, der in besonderem Maße auf Frauen liegt? Wir brauchen zuallererst ökonomische Gleichberechtigung. Die Voraussetzung für eine körperliche Selbstbestimmung ist aus meiner Sicht Unabhängigkeit in allen anderen Bereichen. Frauen bekommen signifikant weniger Rente, sie ziehen den Kürzeren, wenn sie sich scheiden lassen und so weiter. Ökonomische Unabhängigkeit sorgt für Wahlfreiheit. Es geht aber auch um Rahmenbedingungen, Steuergesetze zum Beispiel. Wir müssen das Ehegattensplitting abschaffen, den Pay Gap schließen. Bildung ist wichtig: wir müssen lernen, dass die Körper einzelner Personen ihnen allein gehören. Wir müssen Kindern ihr körperliches Selbstbestimmungsrecht beibringen. Wir brauchen einen kritischen Blick auf den Konsum. Finden wir das eigentlich okay, dass uns Konzerne erst schlechte Nahrungsmittel verkaufen und dann auch noch die Diätmittel dazu? Nur wenn ich weiß, welche Konsumentscheidungen gut für mich sind, kann ich unabhängig leben. Noch wichtiger: Wie kann die gesamte Gesellschaft gerechter werden, unabhängig von den Geschlechtern. Wir brauchen auch andere Bilder, an denen wir uns orientieren können.

Erfahrungsgemäß wird es speziell im Moment der Familiengründung schwer, den gleichberechtigten Anspruch in einer Beziehung aufrecht zu erhalten. Der Pay Gap beginnt oft an dieser Abzweigung. Die Arbeitsteilung in der Familie geht zu Lasten der Einkommenssituation der Frau. Das Kinderkriegen ist der neuralgische Punkt, an dem wirklich neuen Ideen gefragt sind. Als Vater Eurer Kinder empfehle ich einen Feministen, der versteht, wie wichtig es ist, dass nach der Geburt eines Kindes beide ihren Weg weitergehen können, damit das ungute Gefälle gar nicht erst entsteht. Das ist eine Lösung, die in dieser Lebensphase vermutlich Geld kostet. Vielleicht wird tatsächlich ein Gehalt für Kinderbetreuung ausgegeben, für Taxifahrten und liegengelassene Kleidungsstücke. Auf lange Sicht zahlt sich das aus. Vielleicht tauscht man auch mal die Steuerklassen, damit die Frau am Ende des Monats mehr auf dem Konto hat. All diese privaten Dinge sind politisch! Wir müssen verstehen, dass größere Gleichberechtigung am Ende allen zugutekommt. Ihr Männer profitiert. Ihr teilt Macht und Geld und bekommt mehr Zeit mit euren Kindern und besseren Sex.

Das klingt gut, aber woher nehmen wir die Kraft, all das auszufechten, während wir mit Windeln wechseln und Hausaufgabenbeaufsichtigung beschäftigt sind? Ich nehme die Kraft aus der Hoffnung, dass Veränderung möglich ist. Aus der Utopie, und der Einsicht, dass Transformation in kleinen Schritten passiert. Es geht um die kleinen Schritte. Vielleicht verhindere ich nur meine eigene Altersarmut, vielleicht gebe ich nur meinen Kindern ein Bewusstsein für körperliche Selbstbestimmung mit auf den Weg. Vielleicht ist es nur eine einzige Mitarbeiterin, die neuerdings so viel verdient wie ihr männlicher Kollege. Für das alles lohnt es sich neue Wege zu gehen.

Sie sprachen vorhin von neuen Bildern, die wir zur Orientierung brauchen. Produziert denn Ihre Produktionsfirma Poison neue, andere Filmbilder? In meinem letzten Film „Schweigend steht der Wald“ geht es um die Folgen der Nazizeit für die Gegenwart. Auf meinem Banner steht zwar nicht der feministische Film, aber ich erzähle schon sehr anders, als ein 55jähriger Mann mit anderer Herkunft so etwas erzählen würde. Ich bin überzeugt, wir brauchen gar nicht so viele Regeln, wer wie abgebildet werden soll. Was wir brauchen, ist die Zugangsberechtigung für ein breiteres Spektrum an Perspektiven. Wir werden feststellen, dass eine Frau wahrscheinlich eine Geschichte über eine Frau erzählt. Jemand mit Migrationsgeschichte wird vermutlich davon erzählen. Und so weiter.

Welche Rolle spielen die Fördergremien und Sender in puncto Diversität? Am Ende des Tages braucht jedes Produkt Abnehmer, das gilt auch für den Film. Die Öffentlich-Rechtlichen holen aktuell mehr Regisseurinnen in den Krimisektor. Im Streaming-Sektor wie in der gesamten Branche gibt es aber viel zu wenig Frauen in den kreativen Schlüsselpositionen, also Regie oder Drehbuch. Die Zahlen hier sind wirklich niederschmetternd. Wir sehen aber auch, dass Frauen andere Sachen konsumieren als Männer. Und das gilt für alle marginalisierten Gruppen. Wenn wir diesen Gruppen mehr Teilhabe ermöglichen, wenn sie sich wiedererkennen in den Geschichten, die erzählt werden, werden sie auch unser Publikum. Das beeinflusst sich gegenseitig.

Das Wie einer Erzählung, auch die Perspektive spielen eine große Rolle in Sachen Glaubwürdigkeit. Dass Sie im Buch mit Humor und Selbstbewusstsein von extrem schambehafteten Erfahrungen sprechen, ist auch für die Leserin befreiend. Gerade wenn es um sexuelle Übergriffe geht, fehlen uns oft die Worte. Wir haben keine Sprache, wir sprechen nicht über Geschlechtsorgane und körperliche Bedürfnisse. Oft auch nicht in unseren Partnerschaften. Wenn wir anfangen, darüber zu sprechen, wenn wir Zahlen offenlegen, kommen wir in eine andere Stimmung. Wir kommen in den Raum der Solidarität und der Veränderung. Ich halte es für wichtig, dass Männer erfahren, mit welchen Angstszenarien wir uns herumschlagen. Dass sie wissen, wieviel Aufwand wir betreiben, um nicht Opfer zu werden. Mit der Zeit und der Energie, die wir dafür aufwenden, könnten wir so viel anderes tun. Lesen, eine Pflanze erforschen, einen Film über die Französische Revolution machen.

Wie fühlt es sich an, dass Sie jetzt mit derart intimen Dingen an die Öffentlichkeit gehen? Das macht mich einerseits nervös, aber ich finde es auch okay. Ich war in der privilegierten Situation, Zeit zu haben, über all diese Körperfragen und Machtfragen nachzudenken, mich zu bilden. Ich habe mir das von der Seele geschrieben und bin jetzt gespannt, was kommt. Der Beruf als Künstlerin, so wie ich ihn begreife, besteht darin, persönlich zu sein. Dazu gehört für mich, dass ich es aushalte, mich auszusetzen.