Zehn Jahre Solistenensemble Kaleidoskop
„When you’re falling, you’re safe“ verspricht der Hypnotiseur und führt die Zuschauerin zu einer schwarzen Yogamatte, auf der sie innerhalb von 90 Sekunden reglos liegen und ihren Wahrnehmungen nachlauschen wird. Weihrauch, repetitive Minimalmusik, flirrender Gesang und suggestive Laserprojektionen haben das Publikum auf den Punkt vorbereitet, an dem sie in „Black Hole“ zu Komplizen werden. Komplizen des Sterbens. Komplizen in einem Trauerritual. Das Solistenensemble Kaleidoskop und der bildende Künstler und Hypnoseexperte Martin Eder haben diesen Abend in den Berliner sophiensaelen gemeinsam konzipiert. Eine temporäre Allianz – typisch für die Arbeit des Ensembles.
Seit seiner Gründung vor zehn Jahren erweitert das Streicherensemble Kaleidoskop die Aufführungspraxis klassischer Musik in immer neuen Konstellationen. Regisseure, Choreografen, bildende Künstler und Komponisten sind die potenziellen Partner des in Berlin ansässigen, international agierenden Künstlerkollektivs. Das Bekenntnis zur Gemeinschaft der Solisten ist dem Namen des Kollektivs eingeschrieben. Es gilt nach außen wie nach innen und stellt nichts weniger dar als einen Angriff auf das Prinzip Elfenbeinturm.
„Keine Denkverbote, was die Konzertsituation angeht“, so laute das Motto aller Unternehmungen, erklären Tilman Kanitz und Michael Rauter bei unserem ersten Treffen in der Kokerei der Zeche Zollverein im September 2015 mit fast heiligem Ernst. Traditionen zertrümmern, Material auseinander nehmen, es mit der aktuellen Kunstpraxis konfrontieren: das Projekt der Moderne hat vor der tradierten Aufführungspraxis klassischer Musik offenbar Halt gemacht. Das Solistenensemble Kaleidoskop holt seit seiner Gründung das Versäumte nach.
„Black Hole“ also ist ein Requiem, das musikalische Material reicht von Johannes Ockeghem und György Ligeti bis zur Popmusik. Hinzu kommen Neukompositionen von Paul Valikoski und Michael Rauter. Aus den komplexen konzeptuellen Überlegungen zu der Frage, wie ein Trauerritual heute aussehen könnte, ist ein betörendes Gesamtkunstwerk aus Musik und Licht geworden, dem Gedankenschwere nicht anzumerken ist. Die musikalische Brillanz und die starke Gemeinschaft des Ensembles wirken physisch ins Publikum hinein. Das Mitmachen ergibt sich fast von selbst. Bestimmt fünfzig Personen liegen am Ende freiwillig auf der Matte. Dann ist es vorbei, kein Applaus, kein Verbeugungsritual. War das nun Theater oder Konzert? Egal.
„Bei der Zusammenarbeit mit anderen Künsten ist der Anspruch stets der, neue Erfahrungen zu machen“, erklärt Geschäftsführer Volker Hormann in seinem kleinen Büro in der Raabestraße, Berlin, Prenzlauer Berg. Man habe sich darauf spezialisiert, sich projektweise mit anderen Künstlern zu einem Organismus zu verbinden und zu einem Adaptiv zu werden. Das Solistenensemble Kaleidoskop gerät so in immer neue Kontexte, erweitert das Arsenal seiner künstlerischen Partner, ist regelmäßig zu Gast bei Festivals wie dem Kunstfest Weimar, den Donaueschinger Musiktagen aber auch dem Sydney Festival und den Operadagen Rotterdam.
„Kein anderes Ensemble in Europa macht auf einem so hohen künstlerischen Niveau, unabhängig vom existierenden Markt, Musik in einem relevanten Ausmaß. Mit dem Anspruch, das Konzert als solches und die Hierarchien zu hinterfragen“, begründet die Kontrabassistin Clara Gervais ihr Engagement bei Kaleidoskop. Sie berichtet von der Arbeit mit dem Komponisten und Installationskünstler Georg Nussbaumer bei „Ringlandschaft mit Bierstrom. Ein Wagnerareal“, aufgeführt 2013 in der St. Johannes-Evangelist Kirche in Berlin-Mitte. Ausgehend von einem Klavierauszug des „Rings“ erzeugten die Musiker Klangmaterial, das durch elektronische Filterketten, so Gervais, „Themen der berühmten Musik nur vereinzelt ‚durchließ. Ein ironischer Kommentar zum Wust an Assoziationen (deutscher Wald, Blut, Götter), der sich mit der vertrauten Melodie umgehend einstellt.“ Gervais erzählt, dass die exzessive Arbeit – der Abend ging über 16 Stunden! – belohnt worden sei mit neuen Interpretationen und Klangerlebnissen, und mit dem Zuspruch eines sehr gemischten Publikums. Auch darum geht es den Machern von Kaleidoskop: die klassische Musik an ein unvoreingenommenes, im weiteren Sinne künstlerisch interessiertes Publikum zu bringen.
Mit der belgischen Truppe FC Bergmann, mit der Regisseurin und Bühnenbildnerin Aliénor Dauchez, mit Sasha Waltz und Sabrina Hölzer hat das Ensemble Kaleidoskop zusammengearbeitet, sich immer entschiedener in Richtung des theatralischen Auftritts vorgetastet. Um sich loszulösen vom bloßen Interpretieren und darüber hinaus zum Teil des Kunstwerks zu werden.
Auf Einladung des Choreografen und Regisseurs Laurent Chétouane bot das Projekt „Bach / Johannes / Passion“, Premiere im Oktober 2014 auf Kampnagel Hamburg, dem Ensemble die Chance, den künstlerischen Radius weiter in Richtung Performance auszudehnen. Erstmals löste es sich vom Notenmaterial, interagierte mit den Tänzerinnen und Tänzern und sang Arien. Chétouane setzte mit dem Projekt die Suche nach Offenheit in der christlichen Passion als performatives Miteinander von Musikern und Tänzern um. Und die mangelnde Routine in dieser Konstellation, das Suchende, Unfertige, übertrug sich als Spannung ins Publikum.
„Orfeo. Eine Sterbeübung“ für die Ruhrtriennale 2015 war ein Mammutprojekt, bei dem Susanne Kennedy und ihre Wegbegleiterinnen Bianca van der Schoot und Suzan Boogaerdt Regie führten. Das musikalische Konzept entwickelten Michael Rauter und Tilman Kanitz Hand in Hand mit dem Regietrio – gegen den Strich der legendären Monteverdi-Oper, was Plot und Partitur anging. Nicht Festhalten an der Geliebten Euridike, sie loslassen, sterben lassen, Sehnsucht zulassen, darin bestand die Übung. Die Partitur wurde auf wenige Takte reduziert, in Loops wiederholt. Jeweils acht Stunden am Stück musizierte das Orchester in einer Art Atrium, dem pulsierenden Herzen ringförmig angeordneter Zimmer. Die Zuschauer wurden in kleinen Gruppen in einem strengen Zeitraster von Raum zu Raum geleitet und dort mit stummen, maskierten Euridikes konfrontiert, die zurückschauten, ihr verlangsamtes Sein zelebrierten. Als Kommentar drang die Musik in die Räume ein, teils live, teils durch Lautsprecher. Erst im letzten Zimmer konnte der Zuschauer das Streichorchester spielen sehen, durch eine Scheibe. Je näher man ans Fenster trat, desto leiser wurde die Musik. Die Umsetzung der Sehnsuchtsidee bis ins Kleinste.
Das Kollektiv arbeitet hoch professionell und rangiert inzwischen in derselben Liga wie beispielsweise das Ensemble Modern aus Frankfurt oder die Musikfabrik aus Köln. Projekte bis weit ins Jahr 2018 sind geplant. Mit seinen zahlreichen Gastspielen darf das Solistenensemble als Aushängeschild der avantgardistischen Kunstszene der Metropole Berlin gelten. Was bisher fehlt, ist Planungssicherheit, die nur eine strukturelle Förderung gewährleisten kann.
Weil die vom Senat 2013/14 gewährte zweijährige Projektförderung nicht nur in einzelne Projekte, sondern zum großen Teil in die Bürostruktur investiert wurde, stieg die Anzahl der Projekte auf zwölf pro Jahr. Der Organisationsbetrieb arbeitet inzwischen ganzjährig. Und zwar am Limit. Durch eine kurzfristige Zuwendung aus Mitteln der City Tax durch Kulturstaatssekretär Tim Renner und die Berliner Kulturverwaltung ist der akute Burnout für das Jahr 2016 abgewendet, ein Antrag auf die zweijährige Basisförderung ist gestellt.
Den zehnten Geburtstag begeht das umtriebige Ensemble zwischen März und Juli mit der Konzertreihe „Unmöglichkeit I-IV“. An unterschiedlichen Berliner Kunstorten forschen die Musiker nach dem unzerstörbaren Kern musikalischer Werke. Herzlichen Glückwunsch.