„Wo liegt die Grenze unserer Humanität?“

Der Theatermacher Milo Rau über sein neues Recherche-Projekt „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ zum westlichen Blick auf globale Schrecken und das fragwürdige Verhältnis zwischen Helfern und Opfern

Herr Rau, Sie stellen in Ihrer Inszenierung unsere Empathie mit verschiedenen
Krisengebieten in Bezug und sprechen von einem „zynischen Humanismus“ in Europa.
Inwiefern konkurriert das Leid im kongolesischen Bürgerkrieg mit dem Leid der
Flüchtlinge, die auf der Mittelmeerroute nach Europa kommen?

Das ist keine Frage der Konkurrenz. Im Stück geht es mir darum, die Zusammenhänge
zwischen globalisierter Wirtschaft, den Migrationsströmen und unserer Mitleidindustrie in den Blick zu bekommen. Die Frage ist: Wo liegt die Grenze unserer Humanität? Das Leid im Nahen Osten nehmen wir wahr, seit die Flüchtlinge in der Festung Europa angekommen sind. Die Gewalt und die Toten in Zentralafrika jedoch sehen wir nicht.

Sie haben in beiden Gebieten recherchiert. Was konnten Sie feststellen?

Beruhigend war, dass – im Vergleich zur katastrophalen Situation im Ost-Kongo – die
Flüchtlingsroute aus dem Nahen Osten relativ gut organisiert ist. Der extreme Einsatz der freiwilligen Helfer hat mich tief beeindruckt. Im Kongo dagegen sind die Widersprüche zwischen Entwicklungshilfe und realer Ausbeutung kaum auszuhalten. Was ich in Zentralafrika in den letzten zehn Jahren erlebt habe, hat dazu geführt, dass ich meine Rolle als Künstler begonnen habe zu befragen. Was heißt es, reales Elend auf der Bühne noch einmal zu verwerten? Was heißt Mitleid, als ästhetischer, humaner und politischer Akt?

Was wäre denn eine angemessene Reaktion auf das Leid, das wir nicht sehen?

Eben nicht Charity, sondern wahre Solidarität und Gerechtigkeit – wie wir es mit dem „Kongo Tribunal“ versucht haben …

… Ihrer Inszenierung eines Volksprozesses gegen internationale Minenfirmen im
kongolesischen Bürgerkriegsgebiet.

Was im Endeffekt natürlich hieße, dieses komplette kapitalistische System abzuschaffen.

Wie interagieren Ihre beiden Protagonistinnen, der Schweizer Theaterstar Ursina Lardi und die schwarze Schauspielerin Consolate Sipérius auf der Bühne?

Die burundisch-belgische Schauspielerin Sipérius übernimmt Prolog und Epilog, dazwischen steht der von Lardi gespielte Monolog einer fiktiven westlichen NGO-Mitarbeiterin. Diese dreiteilige Struktur erzählt, auf durchaus rassistische Weise, vom scheiternden Dialog zwischen Opfern und Helfern – und der unheilvollen Dialektik ihrer Beziehung zueinander.