Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen, der Titel ist Programm. Kann er als Ausflucht gelten?
„No Nation, no borders!“ rufen die Aktivistinnen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen in Internierungslagern starkmachen. Haben sie Recht oder sind Außengrenzen nötig, um Demokratie und innere Sicherheit zu schützen?
Während im Frühjahr des Jahres 2014 am Spreeufer in der Berliner Mitte eine Großdemo gegen die Politik der Bundesregierung läuft, erklärt ein PR-Fatzke der Journalistin Lena (Nina Kronjäger), Grenzschließungen seien schon okay. Es gehe nur darum, die Story richtig zu präsentieren.
„Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ haben die beiden Filmemacherinnen Tatjana Turanskyj und Marita Neher ihren Essayfilm zum Thema genannt. Im Jahr 2014 überwiegend im östlichen Griechenland gedreht, erzählt der Film in langen Einstellungen, manchmal stockend, die Geschichte einer mühsamen Recherche. Die Journalistin sucht den zur Drehzeit noch neuen Hochsicherheitszaun, der die Türkei von Griechenland trennt. Bei dieser Arbeit drängt sich die Frage nach der eigenen Haltung zur Flüchtlingspolitik auf.
Wer an den Sicherungsanlagen verdient, will die Journalistin wissen und versucht die Verantwortlichen ans Telefon zu kriegen. Natürlich geht keiner ran. Also fotografiert sie Internierungslager und nimmt rufend mit den Inhaftierten Kontakt auf.
Die konzeptionelle Mischung aus Fiktion und Dokumentarfilm ergibt sich aus den Profilen der beiden Regisseurinnen: Tatjana Turanskyj hat mit ihren Filmen Eine flexible Frau und Top Girl die ökonomisch prekären Verhältnisse von Frauen unter die Lupe genommen, Marita Neher hat sich als Autorin und Reporterin für Arte intensiv mit dem Thema Sicherheitspolitik befasst (Alptraum Sicherheit, S. Fischer). Zusammen präsentieren die beiden ein ungeschliffenes Experiment zwischen Fiktion und Recherche. Leider offenbart das Experiment der beiden von Anfang an nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen. So bleibt bis zum Ende unklar, was genau erzählt werden soll.
Auf einer unwegsamen Schotterpiste fährt die Journalistin als einsame Wölfin der Abendsonne entgegen, gabelt eine junge Deutsche (Anna Schmidt) auf, die sich als Aktivistin des Berlin Refugee Movement zu erkennen gibt. Immerhin, mit der zweiten Protagonistin kann das Roadmovie beginnen – zwei kantige Typen stehen Abenteuer gemeinsam durch. Aber leider passiert dafür einfach zu wenig.
Das Kameraauge ist weit geöffnet, betrachtet einen schmutzigen Marktplatz, Bauruinen, weite Landschaften und enge Hotelflure. Es zeigt die schweigsamen Protagonistinnen auf weiten Parkplätzen und schnurgeraden Straßen im Evros-Delta. An der Stelle hätten wir doch gern eine Story, denn weder bemüht sich die Regie darum, vom Sicherheitszaun zu erzählen, noch wird die Beziehung der beiden Frauen zueinander, werden ihre hilflosen Kontaktversuche zu Einheimischen derart ausgelotet, dass damit erzählerischer Gehalt gewonnen wäre. Stattdessen ist von allem ein bisschen was dabei.
Die baulichen Phänomene der Griechenlandkrise werden visuell protokolliert, die flüchtigen Begegnungen mitgeschnitten. Das verleiht dem Film zwar die Aura von Authentizität, ist aber inhaltlich oft wenig ergiebig. Interessant wird es, wenn zwischen den Frauen ihre Beweggründe und ökonomischen Grundlagen zur Sprache kommen: Die Journalistin ist on the job, die Aktivistin finanziert ihr Engagement mit dem Vermögen ihrer reichen Eltern. Dabei wirft sie der Journalistin vor, zu wenig Haltung zu beziehen gegenüber den rechtlosen Flüchtlingen.
Geht es den Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen darum, von der Unsichtbarkeit der großen Politik zu erzählen? Von der Ohnmacht des Einzelnen? Keine Antworten, dafür jede Menge Fragen. Immerhin sind es die richtigen, die der Film stellt. Etwas mehr Schärfe und Fokussierung hätten dem Projekt gut getan.