Nation als Ausweg

Der amerikanische Soziologe Theodore Abel veranstaltete 1934 in Zusammenarbeit mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ein Preisausschreiben, bei dem sich bewerben konnte, wer vor 1933 in die NSDAP eingetreten war. 683 Einsendungen zum Thema Warum ich Nazi wurde liegen im Lichtsaal des Maxim Gorki Theaters auf einem großen weißen Tisch, Schauspieler lesen einzelne Passagen vor.


Es ist der überraschende Auftakt der Performancetheater-Produktion Kultur verteidigen, die im Rahmen des Festivals War and Peace. Crossroads of History 1918/2018 am Maxim Gorki Theater zur Aufführung kam. Dokumentartheater-Purist Kroesinger und seine Mitstreiterin, die Filmemacherin Regine Dura setzen auf das Charisma der ausgewählten Texte und fordern zum Mitdenken auf: Kultur verteidigen zuerst die Teilnehmer des Preisausschreibens. Hertha zum Beispiel, die von der Schmach der Niederlage spricht, von der nationalsozialistischen Bewegung schwärmt. Als sie noch neu und Revolte war. Die Texte geben Auskunft, wie die ersten Nazis angefeindet wurden. Wie gerade das sie zusammenschweißte, Vaterlose und Benachteiligte, all jene, die sich an der Idee der völkischen Einheit begeisterten. An der Aussicht darauf, gebraucht zu werden. Diese erstaunlichen Bekenntnisse sind gerade im Berlin Story Verlag erschienen. Parallelen zur Tonlage heutiger identitärer Strömungen drängen sich auf. Und das, obwohl die bundesdeutsche Gesellschaft in einer völlig anderen Situation ist als die Nachkriegsgesellschaft der Weimarer Republik. Nation als Ausweg aus gefühlter Sinnlosigkeit, aus der Pulverisierung der Gesellschaft. Nation als Heilmittel gegen Abstiegsängste und Argument gegen das international agierende Großkapital.


Im Jahr 1935 fand in Paris ein internationaler Schriftstellerkongress statt. 250 Intellektuelle kamen zusammen, um ihren Begriff von Kultur durchzubuchstabieren. Zu verteidigen, was Angesicht des Faschismus auf dem Spiel stand.
Das Ensemble liest Auszüge aus den Reden vor. Eindringlich, klug, hellsichtig – und trotzdem wirkungslos. Vielleicht weil, wie der E. M. Foster bemerkt, der Begriff der Freiheit nur die Gutgestellten interessiert? Oder weil, wie Brecht sagt, „die Rohheit von den Geschäften kommt, die ohne sie nicht gemacht werden können.“
Mit ihrem chorischen Stresstext Grundgesetz hatte am 3. Oktober Marta Górnicka den kraftvollen Festivalauftakt gesetzt. Unter strahlend blauem Himmel war es ein geradezu erhebendes Erlebnis, das multikulturelle, genderdiverse Ensemble stellvertretend für das Volk am Brandenburger Tor die glasklaren Formulierungen des Gesetzestextes sprechen zu hören. Kein Zweifel daran, dass Gleichheit und Würde über allem stehen. Die Schrecken des gerade verlorenen Krieges atmen als Negativ aus jeder Zeile des Verfassungstextes. Und die Performance ist ein Glücksfall und Beispiel für eine Intervention, die staatstragend ist, gerade weil sie ihre Kritik an Einheit und Nation, ihren Begriff von Kultur, in den öffentlichen Raum einbringt.


Das Gorki Theater präsentiert ein multiperspektivisches Programm, dem es gelingt, Geschichte präsent zu machen. Am kommenden Wochenende werden zum Abschluss mit dem internationalen DramatikerInnen-Labor Krieg im Frieden Theatertexte aus der Ukraine, der Türkei und Deutschland präsentiert.