In der Höhle des Löwen

Autor und Regisseur Nuran David Calis wirbt mit seinem Stück „Kuffar. Die ­Gottesleugner“ am DT dafür, die Gründe von Fanatismus genauer zu beleuchten

Nuran David Calis, 40-jähriger Sohn jüdisch-armenischer Einwanderer und mehrfach ausgezeichneter Autor, Theater- und Filmemacher, begibt sich mit der Uraufführung seines neuen Stückes auf vermintes Terrain. Auch diesseits von Extrempositionen reagiert die von Terror traumatisierte Öffentlichkeit hochsensibel auf das Thema Islamistische Radikalisierung. Daher sei in den türkischen Communities der Druck auf Künstler und Journalisten enorm. Jeder Moslem fühle sich beobachtet; dem Zwang ausgesetzt, Position zu beziehen.

„Kuffar“ spielt gewissermaßen in der Höhle des Löwen. Für Hakan, die fromme Hauptfigur, sind die Eltern Kuffar, vom Glauben Abgefallene. Als Arzt hat Hakan abgelaufene Medikamente und ausrangiertes Krankenhausgerät an die Hilfsorganisa­tion Roter Halbmond nach Syrien geschickt und verliert deshalb seinen Job und seine Beziehung. Als Videoblogger Abu Ibrahim schwärmt er von der Gemeinschaft in der Moschee, lebt spartanisch und missioniert, zunehmend berauscht vom Glauben, immer extremer seine zahlreicher werdenden Follower – belehrt sogar bezüglich des gottgefälligen Gangs zur Toilette. Blogs mit so absurd konkreten Alltagsvorschriften gibt es tatsächlich. Die Sache mit dem verlorenen Job wirkt allerdings ebenso überkonstruiert, wie Hakans Sicht auf die innere Leere der westlichen Gesellschaft überzeichnet ist.

„Nur wer versteht, was bei einer Radikalisierung passiert, kann eine Gegenbewegung starten“, sagt Calis. Sein Stück „Kuffar“, ein Auftragswerk des renommierten Festivals „Frankfurter Positionen 2017“ gibt dem Fanatismus Stimme und Raum und das dürfte umstritten sein. Dass er dieses Exempel einer Radikalisierung jetzt am DT inszenieren könne, hält der Autor und Regisseur jedenfalls nicht für selbstverständlich. Auf den diesjährigen Autorentheatertagen war bereits sein Projekt „Glaubenskämpfer“ zu sehen gewesen, in dem Laien das aggressive Potential ihrer Religionen auf der Bühne offenlegten. Das Thema sei „komplizierter als wir denken“, meint Calis. „Womöglich sind Fanatismus und Religion Symptome für etwas, das uns auf der menschlichen Ebene fehlt.“ Die Sehnsucht nach einer Idee, nach Gemeinschaft, Politik und Religion, all das ist in der Figur des Hakan verschränkt.

Christoph Franken spielt den Hakan. Seine Rolle, sagt der Schauspieler, „trägt Kritik vor, die wir nicht vom Tisch wischen können: Was wird aus einer Gesellschaft, die keine Ideale hat, die keine Idee von Gemeinschaft in sich trägt und nur den Individualismus feiert?“ Durch die Arbeit am Stück könne er inzwischen verstehen, warum junge Leute den fundamentalistischen Predigern im Netz gebannt zuhören und sich irgendwann entschließen, in den Kampf zu ziehen.

In „Kuffar“ spiegeln die Ideale des Sohnes die Geschichte der linken Eltern: vor dem Militärputsch 1980 hatten sie in der Türkei für eine gerechtere Welt gekämpft, mussten dann nach Deutschland fliehen, haben ihre Utopie verraten und sind geistig erloschen. Auch davon wird erzählt. „Ich wollte diese Parallele, wollte verständlich machen, warum es den Eltern schwer fällt, den Sohn zu strafen“, formuliert Calis vorsichtig.

Auch seine Eltern kamen als politisch Verfolgte aus der Türkei nach Deutschland. Und ja, auch er habe in Teenagerjahren auf der Suche nach Orientierung mit diesem radikalen Weg geliebäugelt, gesteht Calis. Mit „Kuffar“ wollen er und sein Team Denkmuster stören, Fragen aufwerfen und die Mehrheitsgesellschaft zur Debatte über die Kraft des eigenen Spirits herausfordern.