Conditio humana und all das

Gesine Danckwart ist Theatermacherin. Und Autorin. Und Projekterfinderin. Und Autorin. Inzwischen auch Filmemacherin. Und immer wieder Autorin. Sie schreibt, wenn sie für ihre Vorhaben Texte als Material braucht, und das eher während, als vor Beginn einer Produktion. Diese Arbeitsweise hat sich, geleitet von einer Sehnsucht nach Entgrenzung der üblichen Arbeitsteilung zwischen Autor und Regie, nach Entgrenzung von Theater überhaupt, über die Stationen ihrer künstlerischen Biographie entwickelt.

Erst die Arbeitssituation
Danckwart gibt Entscheidungen über die Rahmenbedingungen ihrer Theaterarbeit ungern aus der Hand und sucht alles, was zu finden ist, selbst: Produktionspartner, Format, Medium, Schauspieler und Orte.
Die Arbeitssituation ist inzwischen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit der Ausgangspunkt für alles andere – nicht der Text. Danckwart ist damit als Theatermacherin da angekommen, wo sie hin wollte. Am Anfang steht ein Thema, aus dem sich eine Projektidee entwickelt. Oder umgekehrt. Erst, wenn alle Mitwirkenden versammelt und Locations gesichtet sind, erst dann wird geschrieben. Und das nicht unbedingt in einem Zug, sondern immer mal wieder, an zwei probenfreien Tagen oder in einer ruhigen Phase ohne Drehtage. Nichts absehbarer, als vor Probenbeginn schon die Chronologie eines Abends zu kennen und feste Bilder im Kopf zu haben.

Dann die Texte
Gesine Danckwarts Theatertexte sind Partituren. Ihre Kunstfiguren arbeiten sich reflektierend und redend an den Rollen ab, die ihnen eine durch und durch ökonomisierte Umgebung zuweist. Ihr nutzenorientiertes Dasein als Konsumzellen und Produktivkräfte scheint sie permanent vor sich her zu treiben. Währenddessen suchen sie ihre Position irgendwo zwischen disparatem Innen und genormtem Außen. Sie schleppen ihre Subjektfetzen und eine schmutzende Körperlichkeit mit sich herum. Man hört und sieht ihnen zu, in Momenten, in denen sie sich nur von sich selbst beobachtet wähnen.
Girlsnightout und Überall in der Badewanne wo nicht Wasser ist handelten von der weiblichen Selbstverortung zwischen vorgefertigten Bildern der Medienwelt und einem immer irgendwie abweichenden Ich.

„Ich habe mich als Projektionsfläche perfektioniert. Allerdings sollte ich vielleicht noch ein paar Kilo abnehmen dafür, und das, wo mir gerade jetzt Essen so wichtig ist.“

„Ich finde es wirklich schade, dass ich wieder nur in einem Frauenstück auftrete. Ich hätte so gern mal etwas Wichtiges gesagt und vielleicht auch etwas erlebt, eine Verführung oder so.“

Unter der notdürftig applizierten Girlie-Oberfläche brechen die Diskurse hervor. Immer deutlicher verschiebt sich die Ankleidesituation vor dem Spiegel zur Reflexion existentieller Haltlosigkeit. Die oben zitierte Stimme wehrt sich noch gegen ihre begrenzte Reichweite in einem „Frauenstück“. Schon mit den nächsten Texten Arschkarte und Täglich Brot hat die Autorin ihre Settings in den Zumutungen der Arbeitswelt gefunden und weiter ausgebaut.

Konkurrenzgebaren und Abstiegsängste, die Ideologie von der Machbarkeit des Erfolgs in den Stücken Heißes Wasser für alle und Und morgen steh ich auf und die trostlosen Aussichten derjenigen, die ausgemustert werden aus den Arbeitsprozessen in Soll:Bruchstelle: dies sind die Themen der oft tragikkomischen Befindlichkeitssinfonien. Die ausgefranste Syntax, ein Erkennungszeichen aller Danckwarttexte, bildet die Flut sich gegenseitig einholender Gedankenströme nach.
Man kann sich die Figuren in Ein-Zimmerwohnungen vorstellen. Sie reden um ihr Leben, mal hastig, mal nahe am Verstummen und sie wälzen fortwährend Grundsätzliches:

„Ich kann dieses, ich kann auch nichts dafür, und ich weiß wie dekadent, und mir fehlt es ja an nichts und dann schlägt eben dieses ganze Universum zu und das macht eben diese Depressionen, für die ich nichts kann, für die ich natürlich schon etwas kann, weil ich ein so besonderer Mensch bin, aber in denen halt irgendwer meint, weil er so ein besonderes, diese ganze conditio humana und all das zu fühlen, ich kann diese Menschen, die nie Zeit haben, nicht mehr ertragen.“

Bis auf Überall in der Badewanne, wo nicht Wasser ist, dem Monolog für eine schnellsprechende Schauspielerin, handelt es sich bei Danckwarts Texten um Stücke für drei oder mehr Schauspieler. Figurenbezeichnungen und Zuordnungen von Texten fehlen meist. Selten tragen die Einzelnen Namensreste wie Ela, Gela, Nelke, Sesam und Ulrich in Täglich Brot, Etikettierungen wie Dröge, Minze, Niemann, Reve und Wächter in Und morgen steh ich auf. Die parallel geführten Tonspuren lassen sich oft kaum unterscheiden. Sie intonieren mehrstimmige Klage- oder Kampflieder der Selbstreflexion und schrauben sich in eine Gesamtdynamik hinein. Manchmal trifft man sich, antwortet einander, giftet sich an, driftet dann auseinander, verliert sich wieder im eigenen Universum.
Inhaltlich ist der Einzelne stets um Alleinstellungsmerkmale bemüht, im Chor derer, denen das Wasser bis zum Hals steht. Dann wieder driftet es zu eigenen Wahrnehmungen und Wünschen, und Sehnsucht macht sich breit, nach einem anderen Leben. Nach einem Leben. Aber die Träume, auch davon sprechen die Texte, sind nie die eigenen, nicht authentisch.

Das schmerzhafte Bewusstsein von der Unmöglichkeit der Authentizität und der gleichzeitigen Sehnsucht nach einem Hafen ist Danckwarts Texten sowohl auf der semantischen wie der kompositorischen Ebene eingeschrieben. Dieses Bewusstsein hat notwendigerweise auch Einfluss auf die von der Regisseurin bevorzugte Spielweise der Darsteller, deren Ziel nicht Verkörperung sein kann. Brüchig und durchlässig müssen diese Figuren sein, nie anders als vorläufig.

Sprache wie gemalt
Der Sound der Danckwart-Texte ist unverwechselbar. Wie in einem Steinbruch werkelt die Autorin im gefundenen Sprachmaterial herum und meißelt rhythmische Einheiten, meist Absätze, heraus, die einer musikalischen Dynamik folgen. Sie baut Wortschöpfungen ein und setzt den sprachlichen Ready-Mades noch eins drauf. Durchhalteparolen werden so lange wiederholt und variiert, bis ihre Absurdität sich offenbart. Danckwarts Texte betreiben mit all diesen Mitteln eine kritische Sprachanalyse. Dazwischen und dagegen greift eine hingetupfte Sehnsucht um sich, Sehnsucht nach einem Außerhalb, einem Jenseits des Müssens und Sollens, eine ausgesetzte Sicht auf die Dinge.

„In ein Draußen, getroffen vom warm weichen Wetter. Frühling, das neue Jahr in der Luft, gegangen gerannt Menschen ins Gesicht geschaut und drinnen das Hirn denken lassen, aber so für sich in die Arbeit hinein. Ja, Entschuldigung habe gerade wirklich keine Zeit, aber lass uns doch mal die nächsten Tage, vielleicht Ende der Woche, ich muß gerade an einem Auftrag, eine Idee, ich erzähl dir dann, wenn’s wirklich spruchreif, ja, ich muß weiter, ich muß, bin wieder ein Binwiederwer, ein Mußmüsser, sorry. Ich ruf so bald es geht zurück.“

Seit den ersten Texten Girlsnightout oder Arschkarte haben die sprachlichen Verknappungen und Dehnungen, die Überformungen in Danckwarts Sprache an Drastik zugenommen. Die Sätze sind gehetzter und atemloser geworden, die Selbstzensur der Stimmen rigoroser. Schreiben hat, so die Autorin, in ihrem Schaffen mit Malen und Schnitzen zu tun, es ist ein Konstruktionsprozess. Zwangsläufig unterliegt er einer Dynamik, in Folge derer die Mittel immer weiter getrieben werden. Sprachliche Abstraktionen und die Analyse sozialer und subjektiver Realitäten erzielen eine bemerkenswerte Intensität der Aussagen. Das Angreifervokabular des Textes Und morgen steh ich auf, der die Figuren im Dialog mit einem imaginären Personalentscheider vorführt, wechselt sich ab mit heimlichen Eingeständnissen der eigenen Untauglichkeit. Deutlich wird der Grad an Aggression, der insgesamt für nötig befunden wird, egal ob im Umgang mit sich selbst oder mit anderen.

Das Einverständnis mit der Rolle als kleines Rädchen im Getriebe eint dabei die Protagonisten. Und wenn sie die Vorraussetzungen und Konsequenzen eines eventuellen Handelns nicht so exzessiv erörtern müssten, würden sie vielleicht sogar mal etwas tun. Gelungene Anpassung zeigt sich bekanntlich in der sprachlichen Aneignung von Denkmustern. Und die will in Danckwarts Sprachkosmos nicht glücken. So entstehen Mitschnitte eines permanenten Scheiterns. Eines Scheiterns aber, das viele Schattierungen hat. Von kläglich über angriffslustig bis widerständig und trotzig. Dank ihres Scheiterns, dank ihrer mal aggressiven, mal treuherzigen Selbstentblößungen eignen sich die Dargestellten überraschenderweise als Identifikationsfiguren.

Befreite Texte
Hatte Danckwart für die Videoarbeit Goldstaub im Palast der Republik und die Theaterarbeit Soll:Bruchstelle bereits mit anderen Medien und mit Originaltönen gearbeitet, hat sie mit ihrem Mannheimer Projekt Müller fährt mithilfe eines Audioguidesystems ihr Theater komplett in den Außenraum exportiert. Als Auftragswerk des Nationaltheaters Mannheim ist eine verspielte und technisch aufwendige Straßenbahnrundfahrt zustande gekommen.
In einem Einkaufszentrum, das seine besten Zeiten hinter sich hat, hört man, nach Eingabe von Nummern ins Gerät, Gedankenschnipsel mit. Bewohner des Vorortes Vogelstang waren interviewt worden, und die Stimme fragt sich, wie es wäre, ausgerechnet hier zu wohnen, hier angekommen zu sein, hier alle Hoffnungen begraben zu haben. Wieder in der Bahn, zuckelt Mannheim am Fenster vorbei, während der präzise getimte Kommentar aus dem Guide sich über Stadtansichten legt. Die Reflexionsmaschine Theater stülpt sich mitten hinein ins chaotische Leben. In der Straßenbahn, in den Köpfen der Zufallsgemeinschaft aller Mitfahrer, sucht und findet Gesine Danckwart einmal mehr die Sehnsucht nach dem richtigen, dem erfüllten Leben. Verdichtet die Wahrnehmungen der Zuschauer durch einen vielschichtigen akustischen Kommentar, der immer wieder den Rahmen herstellt und Wirklichkeit im Vorüberfahren in Kunst umwandelt.

Verfolgt man Danckwarts Arbeitsbiographie zurück, findet man diverse Ansätze für eine Suche nach anderen Formaten. Ein wichtiger Auftakt war die dreiteilige Theaterserie Kater in Hotels. Die ersten, von ihr selbst und Remsi al Khalisi inszenierten Stücke und die Auftragsarbeit Täglich Brot hatten ihr eine Aufmerksamkeit beschert, die Wege zu anderen Arbeitsweisen öffnete.

Am Anfang von Kater in Hotels stand die Idee, schnell zu produzieren und sich der Probensituation ohne fertigen Text zu stellen. Robin Arthur, der Co-Regisseur, unterstützte als Mitglied der englischen Performance-Gruppe Forced Entertainment das Wagnis, auszuloten, wie weit die Live-Situation Theater trägt. Beiden Künstlern ging es darum, eine Arbeitsweise auszubauen, die auch und vor allem für Schauspieler eine Gratwanderung darstellt: ein Theater zwischen Repräsentation und Präsenz, brüchige Rollen, die nicht durchgängig eine Figur erzählen. Für die Autorin Danckwart war das Projekt auch ein Vorstoß, sich des von der Theatersituation abgekoppelten Schreibens zu entledigen.

Heute wie damals nehme sie von den Proben Situationen oder Fragestellungen mit, für die sie Texte schreibe. Einmal geschrieben, so Danckwart, behandele sie die Texte auf der Probe als Fertigmaterial, über das sie nicht mehr zu wissen behauptet als alle anderen.
Die Schauspieler traten in Kater in Hotels selbstbewusst in den Vordergrund eines stark reduzierten szenischen Zusammenhangs. Nicht immer perfekt und doch schmerzlich schön erzählten diese drei Abende von den schwebenden Zuständen zwischen Tag und Nacht, von Sehnsucht und Einsamkeit. Ein Textkorpus, den man hätte weitergeben können oder wollen, ist aus diesem Projekt nicht hervorgegangen. Dafür der Wunsch, die gemeinsame Arbeit in dieser Konstellation wiederaufzunehmen. Und die Gewissheit, dass Texte durchaus mitten im Produktionsprozess entstehen können.

Immer wieder auch schreiben
Bei den Recherchen zu den Ping Tan Tales entdeckten Gesine Danckwart und die Dramaturgin Susanne Vincenz, dass das hierzulande verpönte Kopieren ein universelles, hochgeschätztes Prinzip der chinesischen Kulturpraxis darstellt. „Copy“ lautete dementsprechend das Diktat, das die Danckwartschen Figuren und ihre Darsteller in Sachen Identitätsthematik für die Dauer dieses Projektes entlastete. Kopierwettbewerbe nach chinesischem Vorbild sind schweißtreibend, entheben aber immerhin von der quälenden Aufgabe, glaubhaft man selbst zu sein.
Auch für dieses Projekt schrieb Danckwart wieder mittendrin: Reflexionsketten auf der Fahrt durch Chinas endlose Megastädte, Staunen über deren lückenlose Künstlichkeit, Verstehen Wollen, Fremd Bleiben. Zwischen den übrigen Elementen der Aufführung, Video und Dokumentartheaterschnipseln, gelangen mit den Textpassagen immer wieder Höhepunkte der szenischen Konzentration. Sie fungierten als Orientierungsmarken in einem durchkomponierten, streng subjektiven Assoziationsgestrüpp.

Der Rohschnitt für Gesine Danckwarts ersten Kinofilm Umdeinleben ist fertig, eine Produktion über das Auto als Industrieprodukt und Projektionsfläche ist in Vorbereitung.
Wie andere Global Player der Berliner Off-Szene arbeitet Danckwart regelmäßig mit den Koproduktionspartnern HAU und Sophiensaele zusammen. Kontakte nach Düsseldorf und Mannheim werden gepflegt. Jedes einzelne Projekt der letzten Jahre Soll:Bruchstelle am HAU sowie Und morgen steh ich auf am Maxim Gorki Theater hat dazu beigetragen, ihre Arbeitsweise zu erproben und auszubauen.

Inzwischen, sagt Danckwart, sei sie an einen Punkt gekommen, an dem für sie Sprache auf der Bühne wieder an Bedeutung gewinne. Ein reflektierter Umgang mit einem literarischen, durchkomponierten Text sei für sie, die sich als Macherin zwischen Performance und Theater bewegt, in der Zuschauerrolle ein Genuss. Ein Ärgernis, wo schlampig mit Sprache umgegangen werde und jeder noch so gebrauchssprachliche Text als inszenierbar gelte.
Auch wenn es für die Theaterkunst wichtig ist, innovative Formate zu entwickeln, die sich vom Muster hier Text, dort Inszenierung unterscheiden, bleiben Texte, so Danckwart, ein starkes Material für die Theaterarbeit. Sie könne sich sogar fast vorstellen, in Zukunft mal wieder unabhängig von einem Projekt einen Text für die Bühne zu schreiben. Ja, das sei durchaus denkbar.