Das Gefangenentheater aufBruch macht Kunst mit schweren Jungs
Zwei Chöre von je zehn Männern im Profil, stehen sie sich im Abstand von zehn Metern frontal gegenüber, breitbeinig, mit groben Schlachterschürzen über der leuchtend blauen Anstaltskleidung. Ein Einzelner tritt heraus, schleudert dem anderen seine Argumente entgegen. „Wärst du Schafhirt, wie ich, dann wären wir reich. Kain, ich bring dir das Flötenspiel bei“. Kain hält energisch dagegen. Pflug oder Flöte, Acker oder Weide, Fleisch oder Getreide? Ein kleiner, weißhaariger Mann mit Bart und fester Stimme tritt zwischen sie, mitten ins Kraftfeld ihres Streits. Es ist ein starkes, symbolträchtiges Bild wie sich die Männer unter dem freien Himmel gegenüberstehen. Dazwischen einer, der entscheiden muss. Und nach erbittertem Hin und Her tut er es, er schlägt sich auf Abels Seite. Mit seinem Schiedsspruch erst kommen Zurückweisung, Wut und Verrat in die Welt. Und Verbrechen. Und Strafe.
Das Gefangenentheater aufBruch probt Kain und Abel in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Noch zwei Wochen bis zur Premiere. Auf dem großen umzäunten Stück Wiese, das als Freiganggelände dient, steht die metallene Bühne als zweigeschossige Diagonale zwischen zwei Flügeln der Teilanstalt 2. Ein gutes Setting für ein Stück über den ersten Mord der christlich-jüdischen Menschheitsgeschichte. Die langen Zellentrakte aus roten Ziegeln bilden den Hintergrund, ein vergittertes Fenster reiht sich ans nächste. Acht Wochen lang treffen sich die Spieler und das Team um den Regisseur Peter Atanassow und die Produktionsleiterin Sybille Arndt montags bis freitags zur Probe. Die Teilnahme ist freiwillig und in der Regel zusätzlich zum Arbeitstag. Wer öfter unentschuldigt fehlt, fliegt. Fünf Stunden Probe stehen jeden Tag auf dem Programm, neben Szenenproben haben die Spieler ein anspruchsvolles Sprech-, Körper- und Gesangstraining zu absolvieren. Die Schauspieler müssen den Text so sicher beherrschen, dass sie frei uns souverän damit umgehen können. Ein Beamter ist immer dabei.
Es wird nach Talent besetzt und nach Lust und Mut, mehr oder weniger von der eigenen Person zu zeigen. Aber nicht ungeschützt, sondern vermittelt über die Literatur, geführt durch die Regie. Da sind Verzweiflung, Wut, Selbstbewusstsein, Spott und Hohn zu sehen. Lautes Poltern und leise Töne. „Biographie füllt Text“ ein Heiner-Müller-Wort, ist das Motto von aufBruch.
Bär, ein großer, kräftiger Mann mit Zahnlücke und Tätowierungen, seit 1984 inhaftiert und zum vierten Mal bei aufBruch dabei. Das Gesicht des 48-Jährigen ist ein bisschen schief und blass, aus gesundheitlichen Gründen nimmt er nicht am Körpertraining teil. Bär ist einer, der reden kann. Er erzählt in der Probenpause, dass die Theaterarbeit für ihn, nach siebzehn Jahren therapeutischer Aufarbeitung seiner Tat, eine befreiende Wirkung hat. Es fühlt sich gut an, auf der Bühne eine Rolle zu verkörpern und dabei doch man selbst zu bleiben. Wann er rauskommt? Nach Absitzen der Maximalstrafe ist er in die Sicherungsverwahrung gekommen und muss die Gutachten abwarten. Hier, auf dem Gelände, ist Bär ein liebenswürdiger Gesprächspartner.
Weswegen ihre Schauspieler inhaftiert sind, wissen die Theaterleute offiziell nicht. Peter Atanassow will das auch so. Zu viel zu wissen, das könne in der Arbeit stören. Bär hat in der aktuellen Produktion mehrere Parts übernommen, unter anderem den der Eva, die er mit einer unbeugsamen Haltung charakterstark interpretiert. Das Thema das Stückes sei für ihn allgegenwärtig. „Brudermord,“ erklärt er, „das gibt es auch hier im Knast, nicht im wörtlichen Sinn, du weißt schon, was ich meine.“
Nicht alle sind Schwerverbrecher wie Bär. Dragan, ein 38-jähriger zierlicher, dunkelhäutiger Mann mit hohem Haaransatz stammt aus Serbien. Er arbeitet draußen auf dem Bau und ist zum ersten Mal dabei. Seit wenigen Monaten sitzt er in der JVA Tegel ein und ist, wie er hofft, vorübergehend und eigentlich aus Versehen hier. Er war im offenen Vollzug und ist beim Fahren ohne Führerschein erwischt worden. Seine Frau erwartet Zwillinge, er wird also draußen gebraucht. Trotzdem. Wenn er kurz vor der Premiere in den offenen Vollzug verlegt würde, was durchaus passieren kann, will er die Truppe nicht im Stich lassen.
Das Team von aufBruch wählt seit inzwischen fünfzehn Jahren Stoffe und Themen, die mit den Erfahrungen der Gefangenen zu tun haben. Suchen muss es nicht lange. Die Weltliteratur ist voller Mörder, Diebe und Helden, die mit dem Gesetz im Clinch liegen. Spartakus wurde gespielt, Don Quichotte, Michael Kohlhaas, Kafkas „Prozess“, zuletzt zog die Truppe als Hannibals Heer über die Alpen. Der Wechsel zwischen chorischem Sprechen und einzelnen Einwürfen, das Urprinzip der klassischen Tragödie, ist fester Bestandteil der Ästhetik des Gefangenentheaters. Das Ensemble besteht aus all denen, die Lust haben, Theater zu spielen. 25 Männer machen bei Kain und Abel mit, jeder wirkt in einem der Chöre mit, die mal den einen, mal den anderen Bruder darstellen.
Mit kraftvollen Stimmen sprechen die Männer gegeneinander an. Im täglichen Training lernen sie das Sprechen als wichtigstes Schauspielerhandwerk. Stimmsitz, Artikulation und Rhythmus gehören dazu. Ein Muss angesichts der schwierigen akustischen Bedingungen im Freien.
Peter Atanassow sorgt dafür, dass seine Leute die Texte intellektuell und emotional verstehen. Der Regisseur erzählt, manche träumten nachts sogar davon. Wer die Herausforderung meistert, erntet den Respekt des Publikums. Gut für das Standing und das Selbstbewusstsein der Gefangenen auch jenseits der Bühne. Die Schauspieler schätzen es, dass die Theaterleute ihnen in der Arbeit unvoreingenommen begegnen. Einer sagt das ganz deutlich, „Die Leute sind toll. Sie behandeln mich als Menschen. Unabhängig von meiner Tat. Das ist im Knast nicht unbedingt das Normale.“
Peter Atanassow lässt sein Ensemble während der Probe nicht aus den Augen. Mit Vollbart und glänzenden Augen tigert er unruhig am Bühnenrand entlang. „Gut“, ruft er dazwischen, „lauter, aber die Haltung ist gut“, springt zwischendrin mit seinen schweren Stiefeln auf das Bühnenpodest, um zu zeigen, was er meint. Manchmal bewegt er leise die Lippen mit, wenn seine Schauspieler deklamieren, korrigiert Betonungen und Versprecher. Wie bei der Theaterarbeit draußen, gilt es, den richtigen Ton zu treffen, jeden Einzelnen wissen zu lassen, er wird gesehen. Atanassow schätzt die speziellen Persönlichkeiten seiner Schauspieler. Er lässt ihnen Raum und hält sie, wo nötig, mit klaren Ansagen in der Spur.
Er holt seine Darsteller dort ab, wo es sie kratzt. Schuld und Strafe sind den Gefangenen allzu vertraut. Peter Atanassow ist selbst gelernter Schauspieler. Der Knast ist aus seiner Sicht ein Ort, der nach festen archaischen Regeln funktioniert, es sind die Regeln der Kasernen und Lager. Es ist horizontale und vertikale Überwachung und der tägliche Kampf damit. Genau das interessiert ihn als Künstler.
In diesem Jahr feiert AufBruch sein fünfzehnjähriges Bestehen. Man habe sich durch allzu starken Gestaltungswillen von der Klarheit der ersten Stunde entfernt, erzählt Atanassow. Mit Kain und Abel will das Team nun wieder zurück zu den Anfängen, und das, was eigentlich zähle in dieser Arbeit, die starke Situation, die Persönlichkeiten der Schauspieler, die misstrauisch sind, eigenbrödlerisch und aufbrausend, in den Mittelpunkt rücken. Nur so könnten wahrhaftige Aufführungen entstehen.
Und die Schauspieler? Für sie ist die Schauspielerei eine Abwechslung im engen Gefängnisalltag. Eine neue, andere Möglichkeit, ihre Persönlichkeit auszuspielen, indem sie sich dem Publikum zeigen. Theaterspielen ist auch ein Kontakt mit der Außenwelt.