Alle Jahre wieder

Für Alleinerziehende sind die Festtage eine Herausforderung. Aber die Weihnachtsgeschichte lehrt: Nur Mut beim Improvisieren!

Die ganze Wahrheit über die heilige Familie? Sie ist heilig, aber nicht heil. Jedenfalls nicht im Sinne konservativer Familienpolitik. Das Jesuskind, die jungfräuliche Maria und Stiefvater Josef sind eine Patchworkfamilie. Unordentliche Familienverhältnisse begleiteten also die Geburt des abendländischen Prinzips Liebe. Dazu kam Improvisation: Jesus in der Krippe, keine Heizung, nur Stroh.

Ungeachtet dieser prekären Ausgangsszene bleibt in den Köpfen vieler Leute das Bild der Familie, die unterm Weihnachtsbaum feiert, einförmig: Vater, Mutter, Kind. Daran ändert auch die bunte Vielfalt gelebter Familienkonstellationen in Großstädten wie Berlin wenig. Wer nicht ins Schema passt, darf sich in Vorbereitung auf den Heiligen Abend etwas einfallen lassen. Was tun an einem symbolisch derart mit einem heilen Familienbild aufgeladenen Fest, wenn die eigene Lebenssituation vom Ideal abweicht, weil sie kleiner ist und zum Beispiel nur aus Mutter und Kind besteht, oder aus Vater und Kind? Diese Frage stellen sich viele. Denn: Jede fünfte Familie in Deutschland besteht aus Kindern, die mit nur einem Elternteil zusammenleben, in Berlin ist es sogar jede dritte.
Bernadette Conrad begann das Fest mit einem befreundeten Paar zu feiern, als ihre Tochter noch klein war und sie selbst vom Vater des Kindes schon getrennt lebte. Für alle sei es eine glückliche Fügung gewesen, sagt sie heute, da ihre Tochter fünfzehn Jahre alt ist. Sie hat ein Buch über das Alleinerziehen geschrieben mit dem Titel „Die kleinste Familie der Welt“. Das Kapitel „Wohin an Weihnachten?“ nimmt darin einen zentralen Platz ein.

„Familie ist da, wo man einander gut tut, wo man so zusammen sein kann, dass es allen Anwesenden gut geht“, sagt Bernadette Conrad, Reisejournalistin und Buchautorin, die vor einem Jahr mit der Tochter von Konstanz nach Berlin umzog. Sie plädiert dafür, sich die Freiheit zu nehmen, „die oft konservativ besetzten Räume so zu gestalten, wie es zu uns passt“. Alle Jahre wieder fahren die Autorin, ihre Tochter, und das befreundete kinderlose Paar seither in dieselbe Ferienwohnung. Sie verbringen die Tage miteinander als „Weihnachtsfamilie“ – inklusive der Stimmungshochs und -tiefs, die ein solches Fest in jeglicher Konstellation unweigerlich mit sich bringt. Auch in diesem Jahr wird es wieder so gemacht, nur hat Tochter Noemi sich diesmal eine Freundin aus der Schweiz dazu geladen. „Das System muss flexibel bleiben und mitwachsen,“ findet Bernadette Conrad.

Es sei erstaunlich, sagt die Autorin, wie sehr das Weihnachtsfest, das auf die unkonventionelle Geburtsstunde im Stall zurückgeht, heutzutage als unwandelbares Ritual im engen Kreis betrachtet wird. Andererseits, wer hätte noch nie unter den angeblich schönsten Stunden des Jahres gelitten? Überladene Tische, Geschenkeschlachten, Weihnachtsstress, blank liegende Nerven. Auch das gehört nicht selten zum jährlichen Brauch, und einige lassen es im Miteinander der Generationen mit knirschenden Zähnen über sich ergehen, „um des lieben Friedens willen“.
Wenn man an diesem Tag etwas anderes erleben möchte, dann muss man es gestalten. Das gilt für vollständige Familien mit Omas und Opas ebenso wie für Singles und für Alleinerziehende. Bernadette Conrad fragt sich, ob der größere Spielraum, den Alleinerziehende sich schaffen – weil sie die Situation freier gestalten müssen, aber eben auch können – nicht sogar als Chance, als Ausweg zu betrachten sei: Die kleinste Familie als Ideengeber zu einem kreativen Umgang mit erstarrten Ritualen.

In ihrem Buch gibt Conrad über das Thema Weihnachten hinaus Einblicke in das unauffällige Paralleluniversum der Alleinerziehenden. Neun von zehn dieser Spezies sind übrigens Mütter. Sie porträtiert acht Alleinerziehende aus der ganzen Welt und handelt die kritischen Themen ab: zum Beispiel das Streiten. Oder den komplizierten Fakt, dass die Kinder zwischen der Vater- und der Mutterwelt leben. Oder den Umstand, dass man einander nicht ausweichen kann, dass Kind und Elternteil aufeinander angewiesen sind, dass man nichts einfach mal an den Lebenspartner delegieren kann.

Bernadette Conrad und die Alleinerziehenden, von denen sie erzählt, haben sich ihre Welt so eingerichtet, dass ihr Leben erfüllt ist. Sie haben es zupackend in die Hand genommen, trotz der oft auftretenden finanziellen Engpässe. Da ist zum Beispiel Caroline, die nach traumatischen Anfangsjahren als Alleinerziehende mit ihren Zwillingen nach Skandinavien auswanderte, wo dank hervorragender Bedingungen was finanzielle Unterstützung, Urlaubsregeln für Eltern und Schulangebote für Kinder angeht, die Familie ein Umfeld fand, in dem sie endlich aufatmen und gut leben konnte. Die Autorin berichtet von sich selbst, wie sie zu Recherchereisen aufbrach und ihre Tochter bei Freunden gut versorgt wusste. Manchmal, wenn die Schulferien es zuließen, nahm sie ihr Kind mit in die Welt: Dann reisten sie als kompakte Kleinstgruppe, überstanden schreckliche Busfahrten, durchlebten Streits und Glücksmomente. Es sind berührende Entwicklungsgeschichten, die Mut und Lust machen, sich etwas vorzunehmen, sich das Leben schön zu machen, passende Lösungen zu finden. Nicht nur für Weihnachten, das Fest der Liebe.

Die Härten dieser Konstellation beschönigt sie nicht: Das viel beschriebene Armutsrisiko vieler Alleinerziehender zieht sich durch alle Bildungsschichten. Es ist von vielen Faktoren bedingt, auch von Gesetzen, die den Familienstand alleinerziehend zu wenig als schützenswerte Lebensform anerkennen. „Hier hängt die Gesetzeslage der gesellschaftlichen Realität weit hinterher“, sagt Conrad.
Steuerlich sind Alleinerziehende gegenüber vollständigen Familien massiv benachteiligt. Nicht zuletzt durch das Ehegattensplitting aus dem Jahr 1958, das statt Elternschaft die Institution Ehe steuerlich fördert, und – indem es Teilzeitarbeit von Frauen begünstigt – außerdem ein antiquiertes Familienmodell, das wiederum zu Altersarmut führen kann. Der Unterhalt wird in der Hälfte der Fälle nicht und in weiteren 25 Prozent der Fällen nur unregelmäßig gezahlt, zeigt eine Studie von 2016. Daher sind viele Alleinerziehende darauf angewiesen, dass der Staat mit dem Unterhaltsvorschuss einspringt, was derzeit lediglich bis zum 12. Geburtstag des Kindes der Fall ist.
Im November hat das Bundeskabinett immerhin beschlossen, ab 2017 den Unterhaltsvorschuss bis zur Volljährigkeit des Kindes zu zahlen. Gleichzeitig soll die bisherige Höchstbezugsdauer von 72 Monaten aufgehoben werden. Hier und da also, tut sich etwas, sagt Bernadette Conrad. Alleinerziehende sind auf dem Weg, auch familienpolitisch gleichgestellt zu werden.

Doch auch wenn das irgendwann erreicht ist, werden sie Erfinder bleiben, die sich aus zu eng gewordenen Mustern lösen. Und die improvisieren können. Die Weihnachtsszene im Stall erzählt uns, dass es im Leben genau darauf ankommt. Und natürlich auf die Liebe.