Sonne, Mond und Sterne

Seit meinem letzten Besuch wurden die Möbel in Sonalis vier Wänden in der elterlichen Wohnung umgeräumt. Das ist kein Kinderzimmer mehr. Unter dem Hochbett steht jetzt ein Sofa mit einer bunten Weltkarte darüber. Am Fenster ein großer Schreibtisch für die Hausaufgaben. Die meisten Stunden, die die Zwölfjährige hier verbringt, lümmelt sie jedoch mit dem IPad auf dem Bett. Wie alle Teenager verbringt sie viel Zeit mit Musik, nur ist ihre Art Musik zu hören sehr besonders: An diesem Abend hören wir zuerst „Autobahn“ von Kraftwerk. Sonali liegt auf dem Bauch, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand liegen auf dem TouchPad, sie navigiert direkt zu einer bestimmten Stelle, drückt auf Play und wippt zu den elektronisch verzerrten Klängen leicht mit dem Körper.

Sie genießt die Momente, in denen sich das Schema wiederholt und springt wieder an den Anfang der Stelle zurück. Ihre Finger bewegen sich minimal, sie ist ihr eigener DJ. Wenn es nach ihr ginge, könnte das ewig so weiter gehen. „Manchmal greife ich ein, weil ich es einfach nicht mehr hören kann.“ sagt Judith Richter, Sonalis Adoptivmutter und rollt belustigt mit den Augen. Von Kraftwerk über Adele bis Stromae hat Sonali viele Songs in ihrem Pool. Das Genre ist egal, Sonali liebt nicht Texte oder Melodien, sondern bestimmte, ausgesuchte Stellen. Gewissenhaft gibt sie Auskunft, was es mit dieser Leidenschaft auf sich hat. Wenn sie gleichzeitig eine bestimmte Augenbewegung mache, sei der wohlige Effekt noch stärker. In Sachen Optik spielen bestimmte Formen eine Rolle. Von einem Lautsprecher in ihrem Klassenraum hat sie ein Foto, das sie immer wieder betrachtet. Die Form der schwarze Membran bietet Sonali Halt und Orientierung. „Das ist, als ob ein Motor startet, der mein Denken in Gang setzt.“ Hören, Sehen und Denken verschmelzen in diesen Momenten zu einem Körpergefühl. „Es fühlt sich so gut an!“ sagt sie und lächelt ein kleines bisschen verschämt.

Die ersten Lebensjahre hat das Mädchen in einem christlichen Kinderheim in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas verbracht. Ihre leiblichen Eltern sind unbekannt und sie ist infolge ihrer Frühgeburt sehbehindert, hätte in ihrer Heimat keine neue Familie gefunden. Die Richters wiederum waren bis dato kinderlos und hätten, weil sie damals schon über 40 Jahre alt waren, im Inland nicht adoptieren dürfen. Die Adoption im Jahr 2014 war ein Abenteuer, ein Wagnis, das sich von Anfang für alle Beteiligten gut anfühlte. Freudig gingen sie aufeinander zu. Das lebhafte und phantasiebegabte Kind und seine unternehmungslustigen Eltern. Alles passte wunderbar.

In den acht Jahren, in denen sie nun in Berlin lebt, hat Sonali, die am Anfang oft ungestüm war, einen weiten Weg zurückgelegt. Das kluge und lebensfrohe Mädchen ist angekommen, lebt behütet in ihrer Berliner Familie, in der sich alle Mitglieder stark aufeinander beziehen. Kontakte zu Gleichaltrigen sind für Sonali schwierig aufrecht zu erhalten. Ihre Interessen sind oft sehr speziell und für andere Kinder nicht immer zu verstehen.

Sonali wird bald dreizehn, ein Teenager. In der Schule schreibt sie gute Noten, „sie hat neuerdings Ehrgeiz entwickelt“, berichtet Thomas Richter. Ihre Persönlichkeit tritt immer deutlicher hervor, aber auch die Lücken, die sie als Heimkind hat. Unter der Obhut ihrer Berliner Eltern hat das Mädchen seine Sensibilität und Neugierde voll entfalten können. Im Philosophiekurs in der Schule ging es darum, spannende Fragen zu formulieren und Sonali hat das Angebot ausgiebig genutzt. Kommunikation ist aktuell ein Thema. Über Empfindungen sprechen, die richtigen Worte finden. Das hat sich auch in der Szene beim Musikhören gezeigt. Es war ihr wichtig, dass wir verstehen, was mit ihr passiert.

Als ich sie am sonnigen Nachmittag an Halloween aus dem Ferienhort abhole, trägt Sonali am Kopf eine weiße Mullbinde mit blutigen Stellen. Ihr schlacksiger Körper ist von einem himmelblauen OP-Hemd verhüllt. Über meinen erschrockenen Blick freut sie sich ausgelassen – und zieht sich um. Weil Sonali sich für das Universum begeistert, haben wir im Zeiss-Großplanetarium die „Sternstunde“ gebucht und nehmen den Bus zum Alexanderplatz. Unterwegs unterhalten wir uns. Small Talk kennt Sonali nicht, sie kommt lieber gleich zu den Dingen, sie sie gerade beschäftigen. „Wie machst du das eigentlich mit dem Geld verdienen“, fragt sie leise. Erwartungsvoll wendet sie mir ihr zartes Gesicht zu, nicht ganz sicher, ob sie so etwas fragen kann. Und dann erzählt sie von den Obdachlosen, die sich oft in der Nähe ihrer Wohnung auf einem öffentlichen Platz aufhalten. „Ich möchte nicht so leben. Deshalb brauche ich einen guten Beruf“ erklärt sie vorsichtig. Was sie beobachtet, bezieht sie immer auf sich selbst, den eigenen Platz in der Welt. Sie selbst möchte nicht so leben müssen. Dass andere verächtlich auf die Armen blicken, weiß sie sehr genau, und es ist für Sonali ein Schmerz. „Es tut weh in mir drin,“ so beschreibt sie das. Am Alexanderplatz steigen wir in die Trambahn um, und während die Häuser der Stadt vor dem Fenster vorüber gleiten, sprechen wir weiter. Sonali hört gut zu, wählt auch die eigenen Worte mit Bedacht. Die intensiven Empfindungen in ihrem Inneren gilt es auszudrücken. Sie will sich mitteilen, verstanden und angenommen werden.

Wir betreten das Foyer des Zeiss-Groß-Planetariums und warten am schwarzen Band vor dem Treppenhaus bis der Einlass beginnt. Im Saal legen wir unsere Oberkörper in den Sesseln weit nach hinten, blicken in die große Kuppel. Die Nahtstellen der einzelnen Segmente, die ganz oben auszumachen sind, erkennt Sonali aufgrund ihrer Sehbehinderung nicht. Für sie ist alles blau. Die helle Scheibe, die auf der gegenüberliegenden Seite erscheint und aussieht, als wäre sie ausgestanzt, ist die Sonne und nicht der Mond. In der nächsten Stunde erleben wir einen Schnelldurchlauf durch den Sternenhimmel, wie er in der kommenden Nacht über den Berliner Himmel ziehen wird. Der Moderator stellt uns einzelne Sterne vor, den Polarstern, der sich fast genau in der Verlängerung der Erdachse befindet. Andromeda-Nebel, Saturn, und der rötliche Mars, die Milchstraße als löchriges Himmelsband. Und dann entfernen wir uns mit einer Art Kameraauge von der Erde, kurz schwebt der blaue Planet im Weltraum, beinahe unwirklich schön. Die Lichter der Ballungszentren glühen an den Rändern der Kontinente. Und wir entfernen uns rasend schnell, werden in immer fernere Regionen gesogen, lassen die Milchstraße zurück, sausen vorbei an korallenartig anmutenden Lichtstrukturen, dazwischen schwarze Materie, von der man bisher kaum etwas weiß. Unser Sonnensystem ist nur noch ein Punkt, unsere Galaxie winzig klein neben tausend anderen und es schwindelt uns, wenn wir uns bewusst machen, wie winzig die Erde in diesen Weiten ist. Wie klein erst wir Menschlein! Dann spielt der Moderator Rocket Man und Elton John singt von Kälte und Einsamkeit des Alls, vom Heimweh nach der Erde. Wir kehren zurück zum einzigen Planeten, auf dem wir leben können. Selbst wenn irgendwo da draußen menschliches Leben möglich wäre, erfahren wir, niemals könnten wir diesen Ort erreichen, er wäre zu weit entfernt.

Bewegt verlassen wir das Planetarium. Draußen wird es dunkel. Menschen in Halloween-Kostümen eilen ihren Partys entgegen. Sonali und ich stellen uns andersartige Wesen vor, auf einem Planeten, Lichtjahre entfernt. Vielleicht gibt es sie irgendwo da draußen. Vielleicht haben sie uns längst entdeckt und bereiten die erste Erdlandung vor? Mit der S-Bahn fahren wir zu Sonalis Wohnung. Das Erlebte hallt nach, es fühlt sich tatsächlich an, als kehrten wir verändert, mit einem weiteren Horizont von der Reise zurück. Wie gut, dass die vertrauten Dinge noch da sind. Sonali zeichnet für mich ihre Lautsprecherbox, diese eine Form, die sie so liebt. Das schwarze Gewebe mit der abgerundeten Spitze unten, die ein bisschen aussieht wie der afrikanische Kontinent.