Die Göttin des Grotesken. Über die Künstlerin Valeska Gert

B History, Geschichtsmagazin der Berliner Zeitung, Nr.05, Herbst 2022

„Kein Aas besucht mich hier, ich liege brach und verfaule bei lebendigem Leib,“ schreibt die Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert, 86, in einem Brief an den Regisseur Volker Schlöndorff. Der hatte sie für seinen Film „Der Fangschuß“ engagiert und darauf über sie die Dokumentation „Nur zum Spaß, nur zum Spiel“ gedreht. Die Gert lebt zu jener Zeit abseits der Metropolen und unterhält in Kampen auf Sylt das Lokal „Ziegenstall“, Bar und Künstlertreff. Das Tanzen liegt brach, aber die Tänzerin ist eine notorische Aufsteherin. Jeden Morgen rechne sie damit, dass etwas Großes passiert, schreibt sie, so naiv wie lebensklug, in ihrer Autobiografie „Ich bin eine Hexe“.

Gertrud Valesca Samosch, 1882 in Berlin geboren, fühlt früh, dass sie anders ist als andere. Ab ihrem siebten Lebensjahr bekommt sie Tanzstunden. Die Schauspielerin Maria Moissi, bei der sie Unterricht nimmt, schickt sie zur Tänzerin Rita Sacchetto, die mit Anita Berber zusammenarbeitet. Valeska Gerts Mutter näht ein orangefarbenes Kostüm: „Es war eng um die Taille gespannt, die faltige Pluderhose stand weit ab, weil Mama sie auf Gaze gearbeitet hatte, und endete in einem Bund über dem Knie, knallblaues Band um den Hals, knallblau geschminkte Augenlider, knallblaues Band um die Fußknöchel“ erinnert sich Valeska Gert. „Ich sah wie ein Plakat aus, so etwas war neu.“ Und genau darum geht es der jungen Künstlerin: um das Neue, das wahrhaft Zeitgemäße. Genau dafür hat sie einen Instinkt.

Im Jahr 1921 nennt Kurt Tucholsky die Gert in der Weltbühne „eine dolle Nummer, eine hervorragende Tänzerin, eine außerordentliche Frau.“ Und der Publizist Alfred Richard Meyer findet gar „ein neuer Erdteil ist durch die Gert geschaffen, der sich von Jahr zu Jahr verändern wird (…).“ Nach Valeska Gerts „Salome“-Abend am 20. April 1923 hagelt es Verrisse. Aber das hält sie nicht auf. Ihre Wildheit und Direktheit, ihr totaler Kunstanspruch machen die Tänzerin Valeska Gert berühmt, und das nicht nur in der Weltstadt Berlin. Der Kanon ist ihr egal, sie greift auf, was sie in der pulsierenden Stadt wahrnimmt und spielt Kupplerin, Dirne, Clown. Tanzt den Koitus. Den Tod. Alles Menschliche kann und will sie mit dem Medium Tanz darstellen. Sie tut es im Geist des Expressionismus. Auf diese Weise prägt sie eine vollkommen neue Idee dessen, was Tanz als Kunstform überhaupt ist. Mimik und Laute gehören dazu, sie gibt Töne von sich. Und das Publikum ist schockiert. Ihr Tanz ist Menschendarstellung, aufs Wesentliche eingedampft, eine künstlerische Überschreitung des Realen. „Seht mein Gesicht, wie es wechselt, wie es sich wandelt, seht mich heranrauschen, seht mich entschwinden, seht mich noch einmal auferstehen,“ schrieb Aribert Wäscher, Valeska Gerts Geliebter, in seinem Text „Das Erwachen der Tänzerin“.

Dabei ist Valeska Gert keinesfalls abgebrüht. Sich derart zu zeigen, kostet sie Überwindung: Es gehe nur, wenn sie sie sich vorstelle, allein im Raum zu sein, hat sie gesagt. Als sie im Frühjahr 1929 mit ihrer Pianistin Maria Kalamkarian nach Moskau reist und im Stanislawski-Theater auftritt, nimmt Sergej Eisenstein Kontakt zu ihr auf. Eine Freundschaft beginnt, aus der eine Liebe wird. „Daß sie beide doch noch als Liebende in Paris zusammenkamen, verdanken sie nicht zuletzt meiner Bewunderung für das Schöpferische und Elementare in der Kunst,“ schreibt der Exil-Schriftsteller Hans Sahl mit einem Augenzwinkern. Er hatte Briefchen von einem Hotel ins andere befördert.

Die Amour spielt sich in Paris ab, denn im Jahr 1933 ist Valeska Gerts Karriere in Deutschland beendet. Ihre Kunst gilt den Nazis als „entartet,“ zudem ist sie Jüdin. Die Gert hält sich in Frankreich und England auf, heiratet 1936 den Homosexuellen Robin Hay Anderson und emigriert 1939 mit ihrem britischen Pass in die USA, allein. Dort ist sie auf sich gestellt. „Weder wusste ich, wie man Geld verdient, noch, wie man die richtigen Kontakte schließt“, erinnert sich Valeska Gert. Die Tänzerin hat Angebote, sie will Charlie Chaplin kennenlernen. Aber ihre anfänglichen Hoffnungen zerschlagen sich. Sie kann sich nicht anpassen an die amerikanischen Verhältnisse. Es fällt ihr schwer, Arbeit zu finden, sie muss rudern, um sich irgendwie über Wasser zu halten. Im Dezember des Jahres 1941 eröffnet Valeska Gert in einem Keller im New Yorker Greenwich Village die „Beggar Bar“. Zu ihren Angestellten gehören Judith Malina, die 1947 das Living Theatre gründen wird, und ein aufstrebender Schriftsteller namens Tennessee Williams, der auch noch von sich reden machen wird.

Kurz nach der Eröffnung erhält Gert einen Brief aus der Redaktion der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau. Die Redaktion mahnt zur Zurückhaltung. „Sie mokieren sich ueber Einrichtungen dieses Landes, kritisieren den Freiheitsbegriff und ergehen sich in zahllosen Anspielungen, die Sie als Immigrantin unter keinen Umständen machen dürfen. (…) Beginnen Sie bitte zu begreifen, dass Ihre Person zu unwichtig ist, um in diesen Kriegszeiten die Gemeinschaft der gesamten Immigration zu gefaehrden.“ Aber Valeska Gert hat ihren eigenen Kopf, sie kann gar nicht anders, als sie selbst zu sein und bei sich selbst zu bleiben. Und so bleiben ihre Wege mühevoll. Aber alles, was sie anfasst, wird, so scheint es, zu Kunst.

„Von Valeska Gert, die einmal eine Revolution des Tanzes auf der deutschen Bühne herbeiführte, ist zu sagen, daß ihr Dialog mit Amerika sich stilgemäß in einem häufig von Räubern und Ratten heimgesuchten Keller im Herzen von Greenwich Village abspielte. In ihrer alkoholfreien Beggar Bar (…) nahm sie vieles vorweg, was erst viel später als ‚Anti-Kunst‘ auf dem Gebiet des Stehgreif- Theaters und der improvisierten Publikumsbeteiligung aktuell werden sollte. Vielleicht widersetzte sich ihr unbeugsamer, anarchistischer Individualismus der Einschmelzung ins Kommerzielle.“ Dies schrieb Hans Sahl, derselbe, der die Briefe zwischen Gert und Sergei Eisenstein ausgetragen hatte und der ebenfalls in New York gelandet war. Anfang 1945 muss Valeska Gert die „Beggar Bar“ schließen. Im selben Jahr ist ihr ehemaliger Kellner Tennessee Williams mit seinem TheatersStück „Die Glasmenagerie“ am Broadway so erfolgreich, dass er den New York Drama Critics‘ Award bekommt.

Die Gert kehrt im Jahr 1947 hoffnungsvoll nach Europa zurück. Sie eröffnet das „Valeska’s“ in Zürich, 1950 die „Hexenküche“ in Berlin. Ihre Bars sind Gegenwelten zur biederen Nachkriegsordentlichkeit, exzentrische Räume, in denen das weltoffene Berlin der 20er Jahre nachhallt. In der „Hexenküche“ tanzt Valeska Gert eine Nummer über die KZ-Kommandeurin Ilse Koch. Doch das Berliner Publikum kann sich für diese Art der Vergangenheitsbewältigung nicht begeistern. Es möchte lieber nicht an die jüngste Geschichte erinnert werden. Dass sich ihre Kunst weder als Unterhaltung noch als Hochkultur einordnen lässt, macht es nicht leichter. Sie ist abonniert auf den Platz zwischen allen Stühlen, auf das einsame, unverdrossene Ringen um einen Ort in der Welt. Weil sie durch ihre Heirat einen britischen Pass hat, wird Valeska Gert von den deutschen Behörden nicht als „Opfer des Nationalsozialismus“ anerkannt und muss Steuern in erheblichem Umfang zahlen. Aus ihrer Nummer „Der Remigrant“ spricht beißender Frust über die Haltung der deutschen Behörden. Die Zurückgekehrten stören schon wieder. „Jeder einstige Hajott / ist gegen dich ein Gott. / Drum Remigrant, erwarte Kampf statt Glück/ Deutsche gehen zwei Schritte vor und ein gehn sie zurück.“

Bis zuletzt ist die Gert aktiv. Ihr liegt es nicht, brachzuliegen, wie sie in ihrem Brief an Schlöndorff klagt. Daher will sie in Werner Herzogs Neuverfilmung „Nosferatu“ eine Rolle übernehmen. Wenige Tage nach Vertragsunterzeichnung stirbt sie in Kampen.