Verkehrte Welt

Der Sparschäler ist nur eines von ungezählten Werkzeugen, die dem Linkshänder bei der Handhabung der Welt im Wege stehen. Hebel, Griffe, Bestecke, Reißverschlüsse, Schreibgeräte, Werkzeuge, Musikinstrumente und Cockpits – alles ist mit rechts zu bedienen. Und das, obwohl mindestens zehn bis fünfzehn Prozent der Menschen als Linkshänder geboren werden. Ab dem Alter von acht Monaten zeigt sich, mit welcher Hand das Menschenkind instinktiv zugreift. Greift es mit links, ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass seine rechte Gehirnhälfte dominant ist. Die Hemisphären und Körperhälften sind über Nervenstränge überkreuz miteinander verbunden: In der rechten Gehirnhälfte sind räumliches Denken und die nonverbale Intelligenz beheimatet. Der mit der Sprache verbundene Intellekt ist dagegen in der linken Gehirnhälfte zu verorten.

„Linkshändige Schriftsteller gibt es eher wenige. Schauspieler, Architekten und Musiker sind dagegen oft Linkshänder“, sagt Barbara Sattler, promovierte Psychologin und Interessenvertreterin von Linkshändern in Deutschland. Die üblichen Verallgemeinerungen über höhere Kreativität oder Intelligenz von Linkshändern gehören ins Reich der Legende.

Barbara Sattler ist selbst Linkshänderin und setzte sich in Deutschland seit den 1980er-Jahren gegen die gängige Praxis an den Grundschulen in Ost und West ein, Erstklässlern ihre Linkshändigkeit abzugewöhnen. Sattler war es, die eine starke These über den Zusammenhang zwischen der Händigkeit und der Gehirntätigkeit aufstellte und damit einiges ins Rollen brachte: Sie brandmarkte die bis dahin eher bedenkenlos durchgesetzte Umschulung als einen „der massivsten unblutigen Eingriffe in das menschliche Gehirn“ und warnte vor den Folgen. Bei den Kultusministerien der Länder setzte sie sich dafür ein, dass linkshändige Schüler als Variante der Norm akzeptiert und gestärkt werden konnten.

Johannes Erdmann, 46, der für ein renommiertes Berliner Architekturbüro arbeitet, profitierte als ABC-Schütze von der Offenheit seiner Eltern und Lehrerin gegenüber seiner eindeutigen Dominanz der linken Hand. Während des Gesprächs im chinesischen Restaurant hält er die Stäbchen links. Er berichtet, wie er als moderner Don Quichotte unermüdlich gegen die Miniwindmühlen der verkehrten Welt ankämpft. Gemüseschäler, Schere, Lineal: alles fehlkonstruiert, bis ins Cockpit des Segelflugzeugs, in dem Erdmann – gegen seine feinmotorischen Voraussetzungen – mit rechts lenken und die Bremsklappen mit links bedienen muss. Die Landung mit gekreuzten Armen wäre suboptimal.

Anpassung ist bekanntlich überlebenswichtig. Entweder der Linkshänder passt die entscheidenden Details der asymmetrischen Welt so an, dass sie für ihn bequem zu behandeln ist. Oder er passt sich da, wo es unumgänglich ist, an die rechtshändige Welt an. Erdmann macht fast alles mit links, bis auf das Fliegen und die Arbeit mit der Computer-Maus am IT-Zeichenplatz, die er bewusst rechts gelernt hat. Und er ist ein bisschen stolz darauf, weil Linkshänder etwas Besonderes sind: Man kennt und erkennt einander.

Das einzige, was Erdmann in Bezug auf seine Händigkeit beklagt, ist seine krakelige Handschrift: Wie bei den meisten Linkshändern, die sich ihre Schreibhaltung ohne fachkundige Anleitung selbst erarbeitet haben, liegt seine linke Hand oberhalb der Schreiblinie und verkrampft beim Schreiben leicht.

Auf einem Foto ist beim US-Präsidenten Barack Obama dieselbe Schreibhaltung zu beobachten. Marina Neumann, die in Berlin-Steglitz eine Psychologische Praxis und Beratungsstelle für Linkshänder unterhält, zeigt diese Haltung auf einer Fotografie. Sie demonstriert, wie Linkshänder entspannt von links nach rechts schreiben können: Das Blatt liegt links von der Körpermitte, im Uhrzeigersinn um 30 Grad gedreht. Der Stift wird unterhalb der Linie geführt.

„Das Schreiben ist der Dreh- und Angelpunkt der Händigkeit“, sagt sie. „Überdies ist es eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit.“ Wenn es mit der nicht dominanten Hand erlernt wird, kann das zu einer permanenten Überforderung und tiefgreifender Verunsicherung führen.

Im Gespräch mit Marina Neumann erhält das Thema eine Dimension, die über ergonomische Schreibgeräte hinausgeht und tief in die menschliche Psyche weist. Die Diplom-Psychologin ist selbst eine ehemals umgeschulte Linkshänderin, sie weiß deshalb, wovon sie spricht: Schulfrust, Komplexe, daraus resultierende defizitäre soziale Bindungen. Schule und Studium, was anderen leicht fällt, hat sie große Mühe gekostet. Durch Zufall stieß sie schließlich auf Barbara Sattlers Buch „Der umgeschulte Linkshänder oder der Knoten im Gehirn“, das sie als Offenbarung empfand: Denn erstmals stellte sie den Zusammenhang her zwischen der Umschulung und vielen ihrer Probleme. Sie probierte ihre linke Hand aus – und spürte, dass sich etwas löste. Entspannung, Leichtigkeit, das alles war mit einem Mal da. Marina Neumann schulte sich vorsichtig auf die linke Hand zurück, entwickelte eine eigene Methode, begann mit betroffenen Kindern und Erwachsenen zu arbeiten. 2014 schrieb sie ihre Praxiserfahrungen im Buch „Natürlich mit links“ nieder. Ihr Buch ist ein Plädoyer für die Rückschulung von Erwachsenen, von Neumann als befreiender Neuanfang geschildert.

Aber Vorsicht! Denn die Rückschulung stellt einen erneuten Eingriff in die Arbeit des Gehirns dar, der fachkundig begleitet und psychologisch betreut werden muss, besonders bei Erwachsenen. Der Prozess kann die Selbstwahrnehmung buchstäblich von rechts nach links kehren und die langvertraute Sicht auf die Welt erschüttern.

Das berichtet sie 51-jährige bildende Künstlerin Beatrice Falck: Sie im Osten aufwachsen und wurde in der Schule auf die rechte Hand konditioniert. Ihre Probleme begannen erst viel später. In einem Kaffeehaus in Berlin-Mitte erzählt sie von ihrer Brachial-Rückschulung in Eigenregie, die sie tief in die Krise führte. Auch sie hatte Barbara Sattlers Buch gelesen und sich sofort angesprochen gefühlt. Mit ihrem Beruf als Unterstufenlehrerin war sie unzufrieden, die Wende hatte ihr Umfeld auf vielfältige Weise erschüttert. Sie wollte ihr Leben ändern, endlich frei sein. Als sie intensiv mit links zu malen und zu schreiben begann, war das zuerst wie ein Flash. Mit gravierenden Nebenwirkungen: Ihre Beziehungen, ihr bisheriges Ich, alles begann, sich falsch anzufühlen. Falck geriet in einen beunruhigenden Zustand, hatte immer mehr das Gefühl, außerhalb ihres Körpers zu sein. Sie fand medizinische Hilfe und kam nach Wochen endlich wieder zur Ruhe. Aber ihr Leben war komplett umgestülpt. Im reifen Alter hat sie noch einmal ganz von vorn angefangen, hat materielle Sicherheit eingebüßt, ist nicht in jeder Hinsicht befreit. Als positiv aber empfindet sie Gewissheit, nun aus ihrer Mitte heraus zu agieren, wie sie sagt.

Auch heute noch kann das Wissen über Linkshändigkeit an vielen Schulen noch verbessert werden. Aber die Sensibilität für das Thema ist da. Im Internet kann man diverse Geräte bestellen, die linkshändiges Schreiben und Werken erleichtern. Auch Sparschälerübrigens. Im Vergleich zu den oft schwierigen Biographien umgeschulter Linkshänder erscheinen die täglichen Kämpfe mit rechtshändigem Werkzeug als ein überschaubareres Gefecht.