Annette Storr – Regieanweisungen

Beobachtungen zum allmählichen verschwinden dramatischer Figuren
Eine Rezension

tdz-10-2009

Mit einem Nachwort von Laurent Chétouane, Parodos Verlag, Berlin 2009, Französische Broschur, 184 Seiten, EUR 20,00.

Wer sich von der Lektüre dieses Buches Erkenntnisse über die Karriere der Regieanweisung in theaterhistorischer Perspektive verspricht, darf sich überraschen lassen. Denn die Habilitationsschrift der Berliner Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Annette Storr beschreitet in mancher Hinsicht ungewohnte Wege. Die Erwartungen an eine theaterwissenschaftliche Untersuchung unter einer Überschrift, die vielleicht Dramentheorie in der Nachfolge von Szondis Theorie des modernen Dramas verspricht, werden nicht bedient. Stattdessen unternimmt die Autorin etwas Komplizierteres, Unübersichtlicheres, Aufregenderes: Sie nähert sich dem Phänomen des Verschwindens dramatischer Figuren, indem sie sich vom Theater und dessen Anschauungsmaterial weg bewegt.

Indem sie, wie sie schreibt, einen Weg beschreitet, ein Terrain eröffnet, Erfahrungen mit Kunstwerken und mit deren Rezeption vor dem Leser ausbreitet. Warum setzt sich das Buch provokativ über Genregrenzen hinweg? Die Antwort erschließt sich bei der Lektüre. Es geht der Autorin darum, einem komplexen Thema auch formal gerecht zu werden.
Annette Storr beobachtet wie das große Thema des Verschwindens, man könnte vielleicht auch sagen, des Verlustes von Subjektmächtigkeit, in verschiedenen künstlerischen Medien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt ist. Die Auswahl der in den Blick genommenen Texte und Bilder – ein Film, eine Fernsehaufzeichnung sind auch dabei – wirkt zunächst zufällig, disparat. Doch im Verlauf der Lektüre und der sukzessiven Erweiterung der Fragestellung bildet sich ein Zusammenhang heraus.

Das gemeinsame Thema sind die verschiedenen Darstellungsformen des Verschwindens. Die Autorin entdeckt, dass das Verschwinden in allen Kunstwerken mithilfe einer räumlichen Anordnung thematisiert wird, dass es immer Umgebungen sind, aus denen Figuren verschwinden. Das Thema der Regieanweisungen, der Bezug zum Medium Theater, stellt sich tatsächlich immer wieder ein. Wenn etwa Melvilles berühmter Schreiber Bartleby hinter seinem Paravent, für den Rechtsanwalt unsichtbar, insistiert „I would prefer not to…“, handelt es sich um eine Szene, in der die räumliche Anordnung zentral ist für die Aussagestruktur. Ähnlich verhält es sich mit Virginia Woolfs Roman Between the acts, in dem es gelingt, mit und durch die Schilderung einer Theateraufführung Zerstreuung von Wahrnehmung darzustellen, ein kollektives, disparates Erleben. Storr weist das unter Zuhilfenahme von Kommentaren der Schriftstellerin und in präziser Revision anderer Lektüren nach.

Die Figur verschwindet, die Struktur tritt ins Zentrum der Darstellung, könnte man vielleicht vorsichtig resümieren, doch äußert sich die Autorin selbst niemals so eindeutig. Sie entwickelt ihre Gedanken auf der Höhe der Ambiguität dessen, was sie beschreibt. Mit einem als philosophischer Dialog angelegten Kommentar zu Becketts Text Mal vu mal dit erweitert sie das Thema der verschwindenden Figur um den Topos vom Tod des Autors und legt dar, wie präzise und eindringlich Beckett in seinem Schreiben „Enden“ und „Aufhören“ gestaltet hat.
Die stets mitlaufende Reflexion über die eigene Vorgehensweise entspricht dem geschärften Bewusstsein der Autorin für die Bedeutung von Komposition in der Entwicklung eines Themas. Bei ihrer einerseits zurückhaltenden, andererseits einfallsreichen und philosophisch geschulten Annäherung an das Material, vermeidet es die Autorin strikt, Begriffe zu setzen und Ergebnisse zu formulieren. Dem akademisch üblichen „Zugriff“ auf Gegenstände stellt Annette Storr die Methode der Begegnung gegenüber, den Dialog mit Werken, wie er in der künstlerischen Auseinandersetzung, etwa der Dramaturgie, wohl eher an der Tagesordnung ist als im akademischen Kontext. Es geht in diesem Buch stets darum, Material anzuordnen, Zusammenhänge zu zeigen, die Fragestellung zu erweitern, zu vertiefen, sie immer wieder neu und etwas anders am Gegenstand, an den Kunstwerken und den Kommentaren ihrer Urheber zu messen.

Dem Leser werden bei der Lektüre einige Abschweifungen zugemutet, aber er wird auch belohnt. Annette Storr nimmt ihn mit auf eine anregende, Genregrenzen überschreitende Reise zu bedeutenden Kunstwerken, allesamt im Wortsinn „Sehenswürdigkeiten“ des 20. Jahrhunderts. Und so beginnt man etwas vom Zusammenhang zwischen der Figur und ihrer Umgebung zu verstehen. Und von der Einzigartigkeit des Mediums Theater, das immer, egal, wer spricht oder schweigt, davon handelt: von der Figur im Raum.