Mutter Courage und die Mutter des Ensembles: Helene Weigel zum 125. Geburtstag

Die Furche, 10. Mai 2025 – Wer an sie denkt, sieht sie wohl im Kostüm der Mutter Courage. Eine kleine energische Person, die mit schwingenden Röcken vor ihrem Wagen hergeht. Jahrzehntelang lenkte Helene Weigel tagsüber das Berliner Ensemble durch politisch schwierige Fahrwasser. Abends stand sie auf der Bühne. Über vierhundertmal als Mutter Courage, jene starke Figur aus der Feder Bertolt Brechts, die das Brot für sich und ihre Kinder auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges verdient. Als ihre Kinder tot sind, spannt Mutter Courage sich selbst ins Geschirr. Der Krieg geht weiter, die Bühne dreht sich unablässig – wie die Welt.

Zur Drehbühne des Berliner Ensembles gibt es eine Anekdote, an die vor kurzem der Regisseur Frank Castorf am Rande einer Regiearbeit erinnert hat. Unter der Bühne des Berliner Ensemble entdeckte er sowjetische Panzerteile, Räder des T-34, mit denen der Mechanismus vor siebzig Jahren stabilisiert worden ist. Die Intendantin Helene Weigel soll den Deal mit den sowjetischen Besatzern ausgehandelt haben, bot ihnen im Gegenzug eine kostenlose Vorstellung an. Ein Narrenstück, ein grandioser Coup!  

Damals, im Jahr 1954, befand sich die Schauspielerin Helene Weigel auf der Höhe ihres künstlerischen Erfolgs. Woher kam diese legendäre Mutterdarstellerin in Ost-Berlin?

Heimlich Schauspielunterricht

Vor 125 Jahren, am 12. Mai 1900 wird Helene Weigel als Spross einer bürgerlichen jüdischen Familie in Wien geboren. Ein zartes, aber unerschrockenes Kind. Um jeden Preis will sie zum Theater, nimmt heimlich Schauspielunterricht. Die dänische Dichterin Karin Michaelis, spätere Freundin der Actrice, erzählte in der Vossischen Zeitung vom Vorsprechen vor dem Direktor der Wiener Volksbühne. „In der Kehle dieses hässlichen, unbeholfenen, siebzehnjährigen Mädchens ist der ganze Bann der Erkenntnis (…) enthalten.“ Glaubt man den Zeitzeugen, ist das darstellerische Talent dieser Frau von Anfang an über jeden Zweifel erhaben. Helene Weigel hat eine unverwechselbare Stimme, kann mit Sprache umgehen, ist eine ungekünstelte Menschendarstellerin.

1920 geht sie ans Neue Theater nach Frankfurt am Main und wird beinahe über Nacht berühmt.  

Den Dichter Bertolt Brecht lernt sie 1923 in Berlin kennen. Bald schon leben die beiden zusammen. Im November 1924 wird Sohn Stefan geboren. Mit dem Vater ihres Kindes arbeitet Helene Weigel zuerst nur gelegentlich zusammen. Er habe ihr Talent zunächst nicht geschätzt, erzählte Weigel später einmal. Aber das macht nichts. Im Austausch mit anderen Regisseuren entwickelt sie in Berlin ihr Können weiter, ist eine gefragte Schauspielerin. Brecht und Weigel heiraten 1929, Tochter Barbara kommt im Oktober 1930 zur Welt. Als Brecht 1931 das Stück „Die Mutter“ nach Gorkis Roman schreibt erwägt er, sie zu besetzen. Es kommt zur ersten intensiven Zusammenarbeit der Eheleute.

Und es geht nicht leicht. Das völlig neue Rollenfach der Mutter und Brechts Idee einer anderen Schauspieltechnik stürzen die Weigel in eine Krise, erzählt der Biograf Werner Hecht. Sie stellt sich dem, reibt sich an der Aufgabe. Das emanzipatorische Theater, das Brecht vorschwebt, verlangt eine stillere Wahrhaftigkeit. Helene Weigel zügelt ihr Temperament, findet leise Töne, die dennoch eindringlich sind. Begeistert beschreibt der Kritiker Alfred Kerr nach der Premiere der „Mutter“ ihre „Mildheit, Zähheit, dazwischen Freundlichkeit; … entfernt von allem Heldentum.“

Sogar Brecht ist zufrieden. Anerkennend analysiert er in einem Text das entfremdete Spiel, in dem die Weigel von Anfang an nicht vorgibt, die Wlassowa zu sein. Stattdessen steht sie wie neben der Figur und zeigt sie dem Publikum. Es ist ein Balanceakt, aber Weigel hat ihren Stil gefunden. Helene Weigel wird mit ihrem starken, realitätsnahen Spiel zur wichtigsten Darstellerin in Brechts unbürgerlichem Theater. Über bestimmte Requisiten, die sie bewusst auswählt, erzählt sie glaubhaft vom Leben der kleinen Leute. Ist dabei burschikos, handfest und direkt, das ganze Gegenteil einer Diva.

Ins Exil

Im Jahr 1933 wird die vielversprechende Zusammenarbeit unterbrochen. Weigel ist Jüdin, Brecht Kommunist, die Familie emigriert. Im Pariser Exil spielt sie 1937 die Titelrolle in Brechts Stück „Die Gewehre der Frau Carrar.“ Wieder eine Mutter, wieder ein Erfolg für Brecht und für sie. „Ihr Spiel war das Beste und Reinste, was bisher an epischem Theater irgendwo gesehen werden konnte,“ schwärmt der Dramatiker im Brief an einen Freund.

Die letzte Station des Exils, Santa Monica an der Westküste der USA, beschert Helene Weigel abermals eine neue Rolle: Rückenfreihalterin. Sie kümmert sich ausschließlich um die Kinder, den Haushalt, kocht für Gäste und sorgt dafür, dass Brecht in Ruhe schreiben kann.

Nachdem Brecht 1947 vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe zitiert wird, reist er abrupt nach Zürich. Die Familie kehrt nach Europa zurück und Helene Weigel auf die Bühne. Das gelingt ihr so gut wie ansatzlos. Mit Brecht als Regisseur bringt sie am Deutschen Theater Berlin „Mutter Courage und ihre Kinder“ auf die Bühne.

Die Premiere im Januar 1949 ist eine Sensation. Das Publikum ist aus dem Häuschen. In über fünfzig teils umfangreichen Rezensionen rufen die Kritiker eine neue Theaterära aus. „Wir sind um eine unverwechselbare Schauspielerin reicher mit diesem erregenden Premierenabend,“ schreibt Friedrich Luft. „Die Couragefigur Hellis jetzt herrlich, von großer Kühnheit,“ jubelt Brecht. Ihre realitätsnahe, unprätentiöse Spielweise berührt. Im verzweifelten Weitermachen dieser Figur erkennen die Leute etwas wieder, sehen auch, warum es falsch ist, vom Krieg profitieren zu wollen.

Die anhaltende positive Resonanz hilft Bertolt Brecht und Helene Weigel in Ost-Berlin ein eigenes Ensemble zu gründen. Brecht weilt mit Tochter Barbara in Zürich. Die Weigel steht abends als Courage auf der Bühne, tagsüber besorgt sie Büroräume, eine Wohnung und führt Verhandlungen für das Brecht-Weigel-Ensemble.

Nun ist sie Intendantin, sie kann organisieren, den Überblick behalten . Die Eheleute teilen sich die Aufgaben einvernehmlich. Brecht agiert als Regisseur und Dramatiker, die oft heiklen Verhandlungen mit den Kulturbehörden liegen in Weigels Hand. 1954 zieht das Ensemble ins eigene Haus am Schiffbauerdamm, das nun Berliner Ensemble heißt. Den DDR-Kulturbehörden geht das freie Nachdenken des Zuschauers, wie von Brecht, Weigel und ihrem Dramaturgen-Kollektiv angestrebt, zwar gegen den Strich. Doch auch nach Brechts Tod gelingt es der Prinzipalin durch geschicktes Agieren in fragilen Machtverhältnissen den Freiraum weitgehend zu wahren.

Unter allen Umständen, so scheint es, blieb Helene Weigel unabhängig, großzügig, nahbar. Brechts legendäre Liebschaften warfen sie ebenso wenig um, wie die jahrelange Bühnenabstinenz oder Brechts Tod im Jahr 1956. Die Tür zu ihrem Büro soll immer offen gestanden haben. Für die Produktion bequemerer Kinderschuhe hat sie sich eingesetzt und für so vieles andere, was die Theaterleute und die Gesellschaft betraf. Der Kritiker Günther Rühle feierte Weigel zu ihrem 50. Bühnenjubiläum als Darstellerin der Emanzipation. „Die großen Frauenrollen in Brechts Stücken sind ihr zu verdanken.“ Helene Weigel war eine hemdsärmelige Mutter, Zigarette im Mundwinkel und durch und durch modern.