Businessman des Living Theatre: Julian Beck zum 100. Geburtstag

Theater der Zeit, 31. Mai 2025 – „Kredite, leere Kasse, Klimaanlage, Julian trägt die Probleme allein. Er ist tapfer, ich bin schwach“, schreibt Judith Malina am 2. Juni 1959 in ihr Tagebuch. Kurz darauf beginnt sie mit den Proben zu „The Connection,“ einem Stück das das New Yorker Publikum mit der Realität drogensüchtiger Jazz-Musiker konfrontiert. Nach über zehn Jahren der Selbstzweifel und Rückschläge gelingt Julian Beck und Judith Malina der Durchbruch. Endlich Aufmerksamkeit. Endlich Presse. Sie brauchen das Echo, sie brauchen die Einnahmen, um das Living Theatre, ihr gemeinsames Lebensprojekt zu erhalten. Die wunderschöne pazifistische gewaltfreie anarchistische Revolution, angestoßen von Kunst, davon träumen sie.

Das Living Theatre wird in den 60er Jahren als Off-Broadway Gruppe weltberühmt werden, es wird neue ästhetische Maßstäbe setzen, ins europäische Exil gehen, wird Jünger und Jüngerinnen in seinem Kielwasser mitreißen. Es ist eine Theaterlegende, die in Deutschland heute beinahe vergessen ist. Dabei hat sie uns viel zu sagen über die Kraft der Utopie. Über die Rolle der Kunst in der Gesellschaft. Darüber, was möglich ist, wenn zwei charismatische Persönlichkeiten entschlossen sind, die Grenze zwischen Kunst und Leben einzureißen. Julian Beck und Judith Malina verbindet eine unkonventionelle künstlerische Partnerschaft, die auch Liebe und Freundschaft ist. Julian Beck war in dieser Partnerschaft das Gegenteil des toxischen Partners. Er war loyal, verlässlich, investierte sich rückhaltlos für das Gemeinsame. Gemeinsam schufen und begleiteten Beck und Malina das Living Theatre. Gemeinsam zogen sie zwei Kinder groß.  Der 1948 geborene Garrick war Julian Becks Sohn, die Tochter Isha von einem der zahlreichen Liebhaber Judith Malinas. Bis ans Ende– Julian Beck starb im Alter von sechzig Jahren an Krebs im Mount Sinai Hospital in New York – hörte er nicht auf, an die Schönheit zu glauben. „Wenn es nicht schön ist, bin ich raus“, wird Julian Beck auf der Website des Living Theatre zitiert.

Heiliger und Businessman

Jack Gelber, Autor des Stückes „The Connection,“ veröffentlichte nach Julian Becks Tod in der renommierten Zeitschrift The Drama Review (TDR) einen persönlichen Text über Julian Beck und die Arbeitsteilung im Projekt Living Theatre: Julian Beck, Businessman. Bei einer Recherchereise nach New York hatte mich Richard Schechner, Gründer der Performance Studies, Regisseur und Protokollant des Living Theatre im Frühjahr 2022 auf diesen Text aufmerksam gemacht. Julian Beck sei ein heiliger Mann gewesen, sagte Schechner noch. Ein Visionär mit herausragenden Fähigkeiten, jemand, der sich den Widersprüchen seiner Existenz stellte, der sich hingeben konnte und wollte. „Judith. If I am a compass, she is my North,“ schrieb Julian Beck 1964 im Essay „Storming the Barricades.“  Wenn ich ein Kompass bin, ist sie mein Norden. Julian Beck war derjenige, der immer wieder Geld auftrieb, den so verhassten Treibstoff im Kapitalismus.

Julian Beck wurde am 31. Mai 1925 als zweites Kind eines wohlhabenden Geschäftsmannes in New York geboren. Mit siebzehn traf er eines Abends in Manhattan Judith Malina, die im Jahr 1929 aus Kiel nach New York gekommen war. So gut wie mittellos, dafür kulturell distinguiert, engagiert für die Sache der europäischen Juden. Malina beschrieb die Begegnung als Kollision zweier Kunst-Enthusiasten. Funken sprühten wie verrückt. Nach einigen Semestern in Yale verließ Julian – zum Schrecken seiner Eltern, die vergeblich versuchten, ihn auf die rechte Bahn zu lenken – 1943 die Universität, um als Autodidakt Kunst zu machen. Dies mit großem Erfolg. Ende der 40er Jahre und zu Beginn der 50er Jahre bewegte er sich mit seinen abstrakt-expressionistischen Bildern im Künstlerkreis um Peggy Guggenheim. Neben Werken von Jackson Pollock und Mark Rothko waren seine Gemälde in Guggenheims Galerie „Art of this Century“ ausgestellt. Er hätte in der Kunstwelt groß werden können. Doch Julian Beck ging weiter, folgte seiner Komplizin Judith Malina in die Theaterwelt, besuchte mit ihr Erwin Piscators „Dramatic Workshop.“ Wurde Bühnenbildner, Schauspieler, Businessman, Poet und Visionär des Living Theatre.

Gemeinsam hatten Malina und Beck in den 50er und 60er Jahren das Theater neu erfunden. Broadway war der Feind, Avantgarde die Stoßrichtung.  Von den Jazz-Musikern, mit denen Malina und Beck in „The Connection“ zusammenarbeiteten, hätten sie in dieser Hinsicht viel gelernt, wie sie einmal zu Protokoll gaben. Performen, ohne zu faken. „The Connection“ war nicht weniger als eine Theatersensation. Weiter ging es mit ikonischen Inszenierungen wie „Mysteries and Smaller Pieces“, „Paradise Now“, „Antigone“ und den „Zofen,“ die sie auf unzähligen Touren in Europa und USA auf Festivals, auf öffentlichen Plätzen und Bühnen aufführten.

Julian Becks Rezeption in Italien

Bis vor kurzem waren Julian Becks Bilder und damit der Zusammenhang zwischen seinem Werk als Maler und als Bühnenbildner und Performer kaum bekannt. Der neapolitanischen Fondazione Morra und ihrem Direktor, dem Kunstfreund Giuseppe Morra, ist es zu verdanken, dass große Teile des Nachlasses in Süditalien zugänglich sind. Vor gut fünfzehn Jahren kaufte die Stiftung, die sich auf Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts konzentriert, neben umfangreichen Archivmaterialien des Living Theatre auch einen beträchtlichen Teil des bildnerischen Werkes Julian Becks. Gemäß dem dezentralen Konzept ist das Archiv seit kurzem in Caggiano, in der Provinz Salerno südlich von Neapel untergebracht. Dort kann man in phantastischer Umgebung das breite Oeuvre Julian Becks wiederentdecken. Ausdrucksstarke Bilder in kräftigen Farben, gelb, violett, rot hängen im oberen Stockwerk. Eine Etage darunter zahlreiche schwarz-weiß Fotografien, die Beck als Performer bei Straßenaktionen in Neapel zeigen. Ein spiritueller Führer, mit seinem langen, schlanken Körper, dem fusseligen Haarkranz, dem schönen Gesicht. Im Keller des Palazzo Morone werden die Kostüme aus der Produktion „Der gelbe Methusalem“ aufbewahrt, von Hanon Reznikov nach Wassily Kandinsky und George Bernard Shaw aus dem Jahr 1982, die Premiere fand in Neapel statt.

Zurück von meiner Recherchereise nach Caggiano, frage ich mich, warum in Deutschland die Utopie und das ästhetische Erbe des Living Theatre so wenig zählt. In Italien ist das anders. Hier lebt die Verbindung zwischen dem Living Theatre und der Kunstgeschichte. Dort, wo das Living Theatre in den 70er und frühen 80er Jahren mit Abstand die meiste Zeit verbrachte, wohin es sich immer zurückziehen konnte, wird das Erbe von der Fondazione Morra und in der akademischen Welt gepflegt. Hier werden Judith Malinas Tagebücher übersetzt. Versuche, sich in Berlin anzusiedeln waren 1965 gescheitert. An der Spree ahnte man, dass das Living Theatre keine Ruhe geben würde, dass es nicht einzuhegen sein würde in die Grenzen der Kunstszene. Julian Beck und Judith Malina eckten auch anderswo immer an. Wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Widerstands gegen die Staatsgewalt gerieten sie in den USA, in Brasilien, Frankreich immer wieder in Haft. Politisierten sich in den Knästen weiter. 

Die italienische Gesellschaft scheint für die utopischen Ideen des Living Theatre empfänglich gewesen zu sein. Paradise Now entstand im Winter 1967/68 in einer Ferienanlage in Cefalu auf Szilien. Julian Beck habe den Clubbesitzer überredet, die Villagio Magico dafür zur Verfügung zu stellen. Dieses Kunststück und viele andere bewerkstelligte Julian Beck als Manager und Macher des Living Theatre. Die jahrzehntelange Wanderschaft forderte viel von ihm, gab ihm zugleich einen reichen Erfahrungsschatz. Seine auf diesen Reisen gesammelten Gedanken veröffentlichte Julian Beck unter dem Titel „The Life of the Theatre“ 1972 in New York. 2021 erschien das Buch in deutscher Übersetzung: „Das Theater leben: Das Manifest des Living Theatre.“ Die Textsammlung ist Zeitdokument und Bibel eines ästhetisch inspirierten politischen Aktivismus.

Während der Wanderschaft durch Europa wurde die Truppe zum Ensemble, zum Kollektiv. Wo es auftauchte, faszinierte es, erregte auch Anstoß. Unzählige Aufführungen, in denen das Living Theatre das Publikum zum Ende der Vorstellung auf die Straße eskortierte, endeten mit Polizeieinsätzen. Als das Living Theatre beim Festival in Avignon gebeten wurde, statt „Paradise Now“ lieber „Antigone“ zu spielen, verfasste Julian Beck ein Statement, warum das Living Theatre sich nicht reinreden lasse in sein künstlerisches Tun. Man zog sich unter großem Medienecho vom Festival zurück. Während der anschließenden Tour durch die USA in den Jahren 1968 und 1969 wurden neue Gefolgsleute gewonnen, gleichzeitig hagelte es Kritik am oft selbstgerechten Auftreten der Truppe.

Ein Trapezkünstler

Über Jahrzehnte hatte er als Vegetarier gelebt, doch im Jahr 1983 wurde bei Julian Beck Magenkrebs diagnostiziert. Das Living Theatre kehrte daraufhin nach New York zurück. Zwischen Krankenhausaufenthalten stand Beck für Francis Ford Coppolas „Cotton Club“ und Brian Gibsons „Poltergeist II“ vor der Kamera. Die Krankheit steigerte seine ätherische Aura noch. In der allerletzten Produktion, „Damals“ (That Time) von Samuel Beckett schaute Julian Beck durch diesen Text auf sein Leben zurück. Wenige Monate vor seinem Tod gastierte die Produktion in Frankfurt am Mousonturm.

Im Nachruf in der Zeit schrieb George Tabori im September 1985 über Julian Beck: „Er riskierte mehr als jeder andere, ein Trapezkünstler hoch über uns, ohne Netz und bereit, zu stürzen. Er war nicht von dieser Welt, als wäre er gerade aus der Wüste oder einem Todeslager gekommen, auch mit einem Doppel-Whopper bei McDondald’s.“