Eine innere Zufriedenheit

Berliner Zeitung, Dezember 2024 – Zehnter Teil der Serie zu einer Auslandsadoption

Ein Foto zeigt Sonali als roten Punkt in einem dunklen, von endlosen Reihen blinkender Lichter strukturierten Raum. „Da habe ich mich intergalaktisch gefühlt“ sagt das Mädchen strahlend. Die Vorstellung völlig losgelöst zwischen den Galaxien zu driften, macht Sonali (alle Namen sind von der Redaktion geändert) keine Angst. Ganz im Gegenteil. In den Ferien war die Familie in Manhattan und hat dort die Mercer Labs besucht, ein neues Museum, in dem Kunst und neue Technologien immersive Erlebnissen kreieren. Besucher tauchen in scheinbar endlose Phantasieräume ein, vielfach gespiegelt, labyrinthisch. Das war eines von vielen beeindruckenden Erlebnissen in New York. Aufregend, aber nicht die erste große Reise.

Vor Jahren war Sonali mit ihren Adoptiv-Eltern in Sri Lanka, dem Land ihrer Herkunft, dem Land, in dem sie einander vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal begegnet sind. Seitdem sind sie eine Familie, so verrückt und wunderbar ihnen das selbst immer wieder vorkommt. Die ersten Lebensjahre hat das Mädchen in einem christlichen Kinderheim in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas verbracht. Ihre leiblichen Eltern sind unbekannt, ihre Sehbehinderung resultiert daraus, dass sie zu früh geboren wurde und in den ersten Stunden ihres Lebens im Krankenhaus beatmet wurde.

In ihrer Heimat hätte sie wohl keine neue Familie gefunden. Die Richters wiederum waren bis dato kinderlos und hätten, weil sie damals schon über 40 Jahre alt waren, in Deutschland nicht adoptieren dürfen. Die Adoption im Jahr 2014 war ein Abenteuer, ein Wagnis, das sich von Anfang für alle Beteiligten gut anfühlte. Freudig gingen sie aufeinander zu. Das lebhafte und phantasiebegabte Kind und seine unternehmungslustigen Eltern. Alles passte. Das ist bis heute so geblieben. Ihre Adoptiveltern sind glücklich. Sonali ist ein sensibles Kind mit einem weiten Horizont. Ihre Neugierde reicht bis in ferne Galaxien, betrifft aber Beschaffenheit des Lebens und damit handfeste Fragen der Biologie.

Wir treffen uns per Zoom, weil Judith, die Adoptivmutter Corona bekommen hat. Per geteiltem Bildschirm sehe ich ein Video vom Besuch der Aussichtsplattform „The Edge“ im 100. Stock eines Hochhauses im West Village. Im Hintergrund der Ausblick auf das Häusermeer in einem breiten Grauspektrum. Sonali im leuchtend rot-violett-gestreiften Pulli mit fliegenden Haaren neben Thomas. Sie rechnen aus, wie schnell der Fahrstuhl unterwegs ist, mit dem sie gerade die 335 Meter nach oben gerast sind. Judith seien beinahe die Tränen gekommen dort oben aus Ehrfurcht vor der Ingenieursleistung und weil der Blick überwältigend war.

Auf meinem Bildschirm sehe ich das große Kind zwischen Judith und Thomas wie es einen riesigen Teller Pasta leerlöffelt. Die Eltern erzählen von New York. Für Thomas Richter bedeutete die Reise in die USA Rückkehr in die Stadt, in der er vor zwanzig Jahren für einige Monate gearbeitet hat. Für Judith und Sonali war es das erste Mal. Vom Jetlag gebeutelt fielen sie abends ins Bett, während Thomas durch die Straßen streifte. Morgens aßen sie in den Eckcafés zwischen Financial District und SoHo Bagel mit Rührei, staunten über die Auswahl an Speisen.

Das großzügige Miteinander sei aufgefallen, eine Kultur von leben und leben lassen. Zufällig entdeckte die Familie bei einem Streifzug durchs West Village eine Tik-Tok-Crowd, die am Samstagvormittag am Washington Square Park zusammenkam. Als die Musik einsetzte, formierten sie sich blitzschnell zu Tanzensembles, lebendig, bunt, stoben wieder auseinander, und dann alles von vorn. „Es war toll zu sehen, wie locker die Jugendlichen waren, wie ungeniert und frei sie sich zeigen.“ Der Big Apple atmet, er lässt denen Luft, die er beherbergt, ein wilder Mix aus Ethnien und Typen in diesem Experiment Amerika. „Als weiße Eltern mit einem dunkelhäutigen Kind sind wir aber auch in New York aufgefallen“ erzählt Judith lachend. „Die Leute schauen uns an. In der U-Bahn zum Beispiel. Und sehr oft lächeln sie, wenn Sonali den Kopf an meine Schulter lehnt.“ Das war in New York genauso wie in Berlin.

Sonali sprudelt nicht gerade in unserem Gespräch, ist im Allgemeinen zurückhaltend. Ihre Klasse nimmt im Englischunterricht gerade New York als Thema durch, die Sehenswürdigkeiten: Freiheitsstatue, das Immigration Museum auf Ellis Island, Brooklyn Bridge und Central Park. „Haben wir alles gesehen. Und ich kann vielleicht in der Klasse mal davon erzählen,“ mit leisem Lächeln. Es kann, muss aber nicht. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt, sagt sie und streckt die Hände nach rechts und links aus, zu Judith und Thomas.

Als wir uns vor einigen Wochen zum ersten Mal trafen, um über die bevorstehende Reise zu sprechen, blätterte Sonali dicht neben mir ausgiebig in ihren Heften, schnupperte am Papier, so, wie sie es macht, seit wir uns kennen. Das Mädchen ist jetzt vierzehn Jahre alt, zierlich, mit zarten Fingern, die unablässig in Bewegung sind. Sie streichen über das Papier, lassen die Seiten vorbeirauschen, immer wieder. Sie schlägt die Seite auf, auf der sie Fantasienamen für Planeten aufgelistet hat, daneben eine gelbe Sonne und ein schwarzgrauer Planet. „Von denen träume ich nachts, da reise ich hin“ verrät sie mir verschmitzt. Und betrachtet sie eine andere Seite, grüne und blaue Farbflächen, mit Wasserfarbe gemalt. Es wird ruhiger neben mir. Sonali notiert, was sie über Opioide weiß. Körpereigene Schmerzmittel, im menschlichen und tierischen Speichel enthalten. „Deshalb lecken Tier ihre Wunden, wusstest du das?“ Nein, wusste ich nicht. Wie sie auf dieses Thema gestoßen ist kann Sonali nicht mehr sagen. Im Biologieunterricht oder sonst irgendwo, egal.  Jetzt kritzelt Sonali alles ins Heft, was sie per Google und Buch über Opioide in Erfahrung gebracht hat. Kurz und sachlich. Wissenschaft für den eigenen Gebrauch.

Mit einem Wochenende auf dem Land werden Richters bald mit Freunden und Familie feiern, dass sie seit zehn Jahren eine Familie sind. „Neulich haben wir zum ersten Mal die Fotos wieder angesehen, wie wir den Koffer damals gepackt haben. Die kannte Sonali noch gar nicht.“ Intensiv denken über die gemeinsame Geschichte nach, fragen sich, was aus ihnen geworden wäre ohne die Adoption. Da ist Freude darüber, wie vertrauensvoll sie miteinander leben, große Dankbarkeit, dass ihr Miteinander so erfüllend ist. Und gleichzeitig wissen sie: Nichts ist selbstverständlich. Das Leben ist fragil, es muss beherzt gelebt und gleichzeitig gut behütet werden. Hat diese Mischung aus Neugierde und Nachdenklichkeit auch etwas mit ihrer Geschichte zu tun?

Was ist das Leben im Verhältnis zum Tod? Und aus was besteht das Ich? All das bewegt die reife Vierzehnjährige. An einer Tür in der Schule las Sonali „Philosophie AG“ und hat dort geklopft, als das neue Schuljahr begann. Sie war die einzige Schülerin, die sich für Philosophie interessierte, konnte nicht warten, bis auch andere an all diese Fragen heranwollten, hat den Kurs alleine belegt. Manchmal spielt ihr der Zufall in die Hände. Ein buddhistischer Seelsorger ist im Familienumfeld aufgetaucht. Er betreut Sonalis Großvater in einer Lebenskrise. Mit ihm, der ihr Heimatland gut kennt, unterhielt sich Sonali lange. Die Begegnung sei für beide Seiten intensiv gewesen, erzählt Judith Richter. Immer wieder staune ich, wie offen die Eltern den gemeinsamen Weg als Abenteuer annehmen, eine Entdeckungsreise, wenn man bereit ist, sich auf das einzulassen, was einem begegnet. Der Mönch habe das Mädchen in seinem philosophischen Denken bestärkt, erzählt Judith freudig.

Über sich selbst denkt Sonali viel nach. In der eigenen Wahrnehmung unterscheidet sie sich von den Kindern in ihrer Klasse, erklärt sie mir. Vor allem in ihrem Talent zur Zufriedenheit. Sie kann die Dinge nehmen wie sie sind. Jammern über schlechtes Wetter oder zu viel Hausaufgaben? Kommt nicht infrage. „Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe“ sagt Sonali. „Wenn der Wecker klingelt, stehe ich eben auf.“ Das sei ein sehr gutes Beispiel für ihre allgemeine Einstellung zum Leben, findet sie.