Eine Brücke aus Büchern

Inci Bürhaniye versteht schon, warum in diesen Tagen jeder von ihr die Türkei erklärt haben will. Einerseits. Andererseits findet sie, dass man auch einfach die Bücher sprechen lassen kann. Deswegen hat sie binooki ja gegründet, einen Verlag, der sich vorgenommen hat eine Art Standleitung zwischen der Türkei und Deutschland zu unterhalten – zwischen dem Land, aus dem Inci Bürhaniyes Eltern kommen und dem, in dem sie geboren wurde. Mit Büchern junger türkischer Autoren, die man hier sonst nicht zu lesen bekäme. „Gegen die ewigen Klischees vom Döner, Teppichknüpfen und Gemüseverkauf, in denen so etwas Elaboriertes wie literarisches Schreiben natürlich nicht vorkommt,“ sagt Inci Bürhanyie in den Verlagsräumen in einer Schöneberger Altbauwohnung. In den weißen Regalen im Flur stehen 30 verschiedene Buchtitel, nach Farben geordnet: das Verlagsprogramm der letzten fünf Jahre.
„Es gibt so viel zu erklären“ sagt Selma Wels, Inci Bürhaniyes Schwester und verdreht die Augen. Immer wieder müssten sie vor allem die Türkei deuten, sagt auch sie. Am allerliebsten sähen die Leute nämlich die alten Vorurteile bestätigt, wollten was Gruseliges über Ehrenmorde hören und sich über repressive Familienstrukturen in Anatolien empören. Das sei ja nicht falsch, aber keineswegs die ganze Wahrheit.

Umso mehr freut es die zwei Frauen, dass das Interesse an den Büchern ihres kleinen Verlags zugenommen hat, seitdem die Türkei und Europa immer weiter auseinanderzudriften scheinen. Ein Beweis, dass die Deutschen doch auch das Land hinter den Negativschlagzeilen verstehen, einen Zugang zur Türkei finden wollen.
Welche Saymbolkraft ihre Arbeit bekommen hat, zeigt auch die Auszeichnung, die Inci Bürhaniye und ihre Schwester am Wochenende in Hamburg entgegennehmen werden: den Kairos-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Er wird europaweit vergeben, für künstlerische Leistungen, und an Menschen, die der Kultur in Europa wichtige Impulse geben. Verlegerinnen haben ihn noch nie bekommen. Sie würden einen dringend nötigen Kulturaustausch leisten, steht in der Begründung der Jury, den Weg ebnen für ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das die politischen Grenzen der EU überschreitet. Sie seien Brückenbauerinnen.
Das Wort gefällt Inci Bürhaniye und Selma Wels gut. Es beschreibt ziemlich genau, was sie vorhatten, als sie vor fünf Jahren beschlossen einen Verlag zu gründen – zwei Schwestern, heute 50 und 38 Jahre alt, Anwältin die eine, Betriebswirtin die andere, die mit dem Buchmarkt nicht viel mehr verband, als ihre Liebe zur Literatur.

Die Idee kam ihnen bei einem Besuch der Istanbuler Buchmesse im November 2010. So viele Bücher, Autoren, Welten – diesen Reichtum wollten sie für Deutschland erschließen. Es war ein ähnliches Gefühl, wie das, was sie als Kinder hatten, wenn sie den Sommerferien aus Aydin in der Ägäis wieder im Pforzheimer Alltag ankamen. In Baden-Württemberg wuchsen sie auf, aus der Türkei kamen ihre Eltern, und diese andere Welt hätten sie den Freunden in Deutschland auch gern nahegebracht. Nun, viele Jahre später, schien die Gelegenheit gekommen – mit Hilfe der Literatur, die Dank ihrer Mutter, einer Lehrerin immer Teil ihres Lebens gewesen war.
Die Schwestern legten einfach los, schrieben einen Businessplan, bekamen finanzielle Starthilfe. Im März 2012 erschienen die ersten vier Titel. Neben zwei hochkarätigen modernen Klassikern ließen Bürhaniye und Wels zuerst „Behzat C.“ übersetzen, die in der Türkei höchst erfolgreiche Krimiserie des jungen Emrah Serbes. Außerdem „Söhne und siechende Seelen“, Alper Canıgüz‘ irrwitzigen, misanthropischen Lebensbericht eines Nietzsche lesenden Fünfjährigen, in bösem, frechen und flapsigen Ton. Nicht unbedingt das, was sich gemeinhin unter türkischer Literatur vorstellt. Einen Preis gab es kurz nach der Gründung für originelles Marketing mithilfe sozialer Medien – für klassisches Marketing fehlte das Geld. Auf der Leipziger Buchmesse 2013 bekamen sie dann den renommierten Kurt-Wolff-Preis, verliehen für besonderes verlegerisches Engagement.

Dass ihre Arbeit von der politischen Entwicklung in der Türkei nicht zu trennen ist, was sie nicht gerade einfacher macht, merkten die Neu-Verlegerinnen bald. Als im Juli 2013 im Gezi-Park die Proteste gegen ein Bauvorhaben der Regierung stattfanden, machte sich Emrah Serbes, Erfinder des mürrischen Kommissars Behzat Ç., zum Sprachrohr der Demonstranten und fiel in Ungnade, was sich auf seine Auftragslage niederschlug. Gleichzeitig fiel für binooki die wichtige Übersetzungsförderung aus der Türkei weg. Im Ministerium war man nicht mehr interessiert. Auch der Weg zu gut gefüllten EU-Töpfen bleibt versperrt, seitdem die Türkei das EU-Abkommen nicht ratifiziert hat.
Eine widersprüchliche Situation entstand. Während ihre Arbeit in Deutschland immer mehr Beachtung fand, mussten die Verlegerinnen zwei Gänge zurückschalten. Der 2014 erschienene Erzählband „Junge Verlierer“ von Emrah Serbes schaffte es auf die Hotlist der unabhängigen Verlage. Die Porträts sensibler türkischer Jungs in Grenzsituationen wurden Unterrichtsstoff im Gymnasium von Bürhanyies Tochter. Vom selben Autor erscheint in diesem Jahr „Deliduman“, ein Geschwisterpaar, dessen Gedanken um Michael Jacksons Moonwalk und die üblichen Pubertätsthemen kreisen; dann gerät er in die Proteste auf dem Taksimplatz und kann sich dem nicht entziehen. Die Lebenswelten, die in der jungen, urbanen, türkischen Literatur Sprache geworden sind, vermitteln ein überraschendes Bild der modernen Türkei. Es ist vieldeutig, ambivalent, fern von Klischees.

Wäre die Arbeit finanziell einigermaßen gesichert, würde Inci Bürhaniye die Kanzlei aufgeben und sich nur noch um den Verlag kümmern; würde moderne Klassiker und noch mehr junge Literatur herausbringen, mindestens 30 bis 50 Titel im Jahr. Vorerst bleibt das ein Traum. Im Jahr 2016 hat binooki drei neue Bücher produziert, darunter „Die Haltlosen“ von Oğus Atay, das Opus Magnum der türkischen Moderne, literarisch gewaltig, umfangreich, vom deutschsprachigen Feuilleton gefeiert. Eigentlich läuft es gut, doch 2017 erscheinen nur zwei neue Titel. Mehr ist ohne Förderung nicht drin.
Inci Bürhaniye ist gerade aus Lübeck zurückgekommen, wo sie auf der Buchmesse der unabhängigen Verlage das kleine aktuelle Programm vorgestellt hat. Außer den Verlagsgründerinnen hat binooki nur noch eine weitere Mitarbeiterin. Die Blauäugigkeit der Anfangszeit hat inzwischen einem pragmatischen Optimismus Platz gemacht. Die beiden Schwestern wissen inzwischen sehr genau, wovon sie reden. Welches unternehmerische Risiko sie sich leisten können und welches nicht. Nach dem „Gott des rechten Augenblicks“ ist der mit beachtlichen 75000 Euro dotierte Kairos-Preis benannt – für binooki kommt er auf jeden Fall zum richtigen Zeitpunkt.

Selma Wels, die jüngere Schwester, lange in der Versicherungsbranche und zuletzt als Location-Scout beim Film, arbeitet bereits ausschließlich für den Verlag. Sie übersetzt auch selbst und engagiert sich beim Börsenverein des deutschen Buchhandels in der Verbandsarbeit. Gerade tritt sie ein bisschen kürzer, sie hat ein Baby. Ihr Sohn liegt während des Gesprächs in ihrem Schoß und kräht ab und zu dazwischen.
Manchmal sieht sie ihren Sohn an und wird still. Sie fragt sich, wie es weitergehen wird mit der Türkei und was das für ihr Kind heißt. Wird es das Land der Großeltern so unbeschwert kennenlernen, wie sie früher? Schon als einfache Deutschtürkin kann Reisen schwierig werden. Wie aber wird es für sie und ihre Schwester, die mit unliebsamen Schriftstellern zusammenarbeiten? Man behalte sie im Auge, hat der Konsul schon kurz nach der Verlagsgründung gesagt.