Anstinken gegen unnötig Praktisches

– erschienen im Missy Mag #68, Okt/Nov 22 –
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In meinem Heimatdorf fiel meine Mutter in den 1970-er Jahren fashionmäßig ziemlich aus dem Rahmen. Ihre knallig-violetten Stiletto-Sandalen, ihre gelben Korkplateau-Schuhe, ihre selbstgenähten rückenfreien Kleider, ihre flotte Kurzhaarfrisur.

Auf dem Dorf up to date zu sein war nicht immer passend. Von meinen Mitschüler*nnen in der Grundschule wurde ihr Aussehen in breitem Dialekt kommentiert. Zu bunt. Zu elegant. Zu selbstbewusst. Mir manchmal peinlich. Aber auf lange Sicht habe ich davon profitiert. Als Tochter aus ländlichem Handwerksbetrieb, war meine Mutter 1963 als junge Frau für ein Jahr nach London gegangen, um Englisch zu lernen. Von dort kam sie mit einem ausgeprägten Sinn für Style zurück.

Irgendwann zog ich nach Berlin. Bekam selbst zwei Töchter. Wenn wir auf Heimatbesuch waren, stöckelten sie mit Omas bunten Tretern übers Kopfsteinpflaster im Hof und fühlten sich groß. Verkleiden blieb ein Lieblingsspiel. Vor dem Spiegel genossen sie die immer neuen Versionen ihres Selbst. Möglichkeiten. Zukünfte. Anstinken gegen unnötig Praktisches.

Statt Medizin, wie zunächst geplant, studiert meine jüngere Tochter Mode, genauer Accessoire-Design. Handtaschen und Schuhe für heute. Ich sehe sie vor mir als Fünfjährige in ihrem pinkfarbenen Lieblingsrock und den zu großen Schuhen meiner Mutter. Sie war es auch, die als Achtjährige fand, ich hätte zu wenig schöne Kleider. Ich habe auf sie gehört, mich an meine Kindheitsprägung erinnert und mich eingedeckt. Bis heute stehen wir Frauen in der Familie auf Vintage. An der Kleiderstange im Second-Hand-Shop fühlt es sich an, als ginge ich heimlich durch den Schrank meiner Mutter. Die Begeisterung für die Farben und Styles der 1960-er und 1970-er Jahre kann ich nicht ablegen. Dazu das Geheimnis eines gebrauchten Teils. Mich im grasgrünen Cocktailkleid mit protzigen Pailletten-Aufnähern in die Gegenwart zu entwerfen macht Spaß. Den Mut zum Fashion-Statement haben wir uns bei meiner Mutter abgeschaut. Seit ihrem Tod hängen ihre Pelzmäntel in meinem Schrank. Im Moment ohne Aussicht getragen zu werden. Weggeben kann ich sie trotzdem nicht.