Der Sommer mit Mama

Jessica ist siebzehn und ihre Mutter ist nicht zurückgekommen. Sie hat nämlich im weit entfernten Sao Paulo Fabinho groß gezogen, den Sohn einer reichen brasilianischen Familie, dessen Eltern zu busy, schick und reich dafür waren. Die brasilianische Regisseurin und Autorin Anna Muylaert greift eine in Brasiliens guter Gesellschaft weit verbreitete Praxis auf: Kinder von Hausangestellten großziehen zu lassen, die in der Regel selbst Mütter sind. In einer subversiven Mutter-Tochter-Geschichte konzentriert sie sich gekonnt auf die Absurditäten und Ungerechtigkeiten dieser Verhältnisse.

Val (Regina Casé) umsorgt ihren Ziehsohn Fabinho (Michel Joesas). Sie kocht,
hängt Wäsche auf, putzt das Bad, sprengt den Rasen und bietet bei der Geburtstagsparty mit gesenktem Blick Schnittchen an. Von der Küche aus korrigiert sie sachte die Erziehungsmaßnahmen der Eltern. Das geht so lange gut, bis Vals Tochter Jessica (Camila Márdila) eines Tages erscheint. Sie will wie Fabinho den anspruchsvollen Aufnahmetest an der Hochschule für Architektur bestehen. Die HausherrInnen heben die Augenbrauen, als Jessica, die mit Val in deren Kämmerchen einquartiert wird, vom sozialen Wandel durch Architektur spricht. Dann sehen sie staunend zu, wie das Mädchen mit dem Hinweis, hier könne sie besser lernen, das komfortable Gästezimmer mit Bad belegt. Die Ordnung der Mütter und die Klassengesetze stehen vollends Kopf, als Dona Barbara am nächsten Morgen widerwillig Frühstück für Jessica macht, während Fabinho mal wieder im Bett seiner geliebten Val geschlafen hat. Val versucht, das alte Regime zu retten und ihre Tochter zurück zu pfeifen, aber zu spät. Der erloschene Hausherr erliegt Jessicas Frische, Jessica tollt mit Fabinho im Pool, isst sein Lieblingseis. Am Tag nach der Aufnahmeprüfung ist nichts mehr wie es war. Auch Val ist vom Virus Freiheit infiziert und schüttelt freundlich, aber bestimmt ihre Fesseln ab.

Subtil und klug erzählt Muylaert von zwei Generationen, die aus dem armen Nordosten Brasiliens in die Stadt gekommen sind. An den großartigen Schauspielerinnen und den Bildern eines völlig in Unordnung geratenen Klassensystems kann man sich nicht satt sehen. Eigentliche Heldin ist die unkorrumpierbare Jessica, die ohne viel Aufhebens unaufhaltsam voranschreitet. Der Film räumte bei der diesjährigen Berlinale den Publikumspreis im Panorama ab. Ja, Klischees werden hier und da bedient. Unterm Strich verblüfft der Film jedoch durch seinen vorurteilslosen Blick auf die Verhältnisse.

„Der Sommer mit Mamã“ (Que Horas Ela Volta?) Brasilien 2015. Buch und
Regie: Anna Muylaert. Mit: Regina Casé, Camila Márdila, Karin Teles u.a., 110 Min. Start: 20.08.