Sonalis neue Welt

Seit zwei Jahren lebt das Mädchen aus Sri Lanka bei ihren Adoptiveltern in Berlin. Und fragt sich manchmal, wer sie zur Welt gebracht hat

Sonali steht am Zaun zum Schulgarten und beobachtet ihre Mitschüler. Die graben, Schippe in der Hand, gerade die schwere Erde um. Das Beet der Grundschule in Berlin-Mitte wird für die neue Gartensaison vorbereitet. Sonali schaut lieber zu. Sie ist eine genaue Beobachterin.

Das siebenjährige Mädchen lebt inzwischen seit mehr als zwei Jahren bei ihren Adoptiveltern in Berlin. Sie geht jetzt zur Schule, in die erste Klasse. Früher lebte Sonali in einer Gruppe von 30 bis 40 Kindern in einem katholischen Kinderheim in der sri-lankischen Hauptstadt Colombo. Es war ein schwieriger Start ins Leben, Sonali war eins von vielen Kindern, für eine individuelle Förderung fehlte den engagierten Ordensschwestern die Zeit. Anfang November 2014 traf Sonali zum ersten Mal ihre Adoptiveltern, ein Architektenpaar aus Berlin. Ein paar Wochen später flogen sie gemeinsam nach Deutschland. Als Familie.

Im Schulhof sieben die Kinder dunkle Brocken, ein Regenwurm bleibt hängen. Sonali legt ihn auf ihre Handfläche, er windet sich. Ihr Gesicht dicht über ds Tier haltend, betrachtet sie es, legt es auf den Boden, nimmt es wieder in die Hand. Gruppenerzieherin Susanne kommt hinzu und plötzlich sind aus einem Regenwurm zwei geworden. Aufgeregte Kinder scharen sich um Sonali und die Erzieherin. Was ist passiert? Alle rätseln, Regenwurmwissen wird zusammengetragen, ohne befriedigendes Ergebnis. Hat sich der Wurm geteilt?
Die Mädchen überreden Sonali den Wurm zurück in die aufgelockerte Erde zu legen. „Der Wurm hat ein Kind bekommen, weil Sonali sich so gut um ihn gekümmert hat“, erklärt ein Mädchen names Sophia. Fürsorge ist wichtig, das weiß Sonalis Freundin und achtet darauf, dass beide Würmer in denselben Erdhügel kommen. Sonali ist inzwischen ganz damit beschäftigt, ein Tierlexikon durchbzulättern, das die Erziehrin geholt hat, um des Wurmrätsel zu lösen.

Sonali sei ein Kind, das gut alleine zurechtkommt, erzählt Erzieherin Susanne später im Gruppenraum. Das Talent, ihre Energie zu kanalisieren und sich auf das Wesentliche zu fokussieren, auf das, was gerade passiert, sei bei ihr extrem ausgeprägt. Mehr als andere Kinder lebe Sonali im Augenblick, findet Susanne. Sie könne freudige Erlebnisse auffallend intensiv genießen. Umgekehrt sei zu beobachten, dass in ihrer Wahrnehmung einzelne Momente nebeneinander stünden, Kontinuität empfinde sie weniger stark als andere. Das betrifft auch Bindungen. Es sei zum Beispiel theoretisch vorstellbar, dass, würde Freundin Sophia ihr plötzlich aus dem Weg gehen, Sonali das für ein paar Tage gar nicht merken würde. Das habe mit ihrer Geschichte zu tun.

Jedes Kind da abzuholen, wo es gerade steht ist der Anspruch der Erziehrinnen in der Grundschule. „Im Kern geht es darum, dem einzelnen Kind zu helfen, autonom zu werden“, sagt Susanne.
Sonali lasse das Erzieher-Team immer wieder staunen. Mit welcher Intensität sich das Mädchen zum Beispiel gerade in die Beschäftigung mit dem Buch versenkt – wie sie daran riecht, es befühlt, den Wind im Gesicht wahrnimmt, wenn sie schnell blättert. Geradezu vorbildlich beziehe sie, aus eigenem Bedürfnis heraus, das Haptische in den Lernprozess ein.
Mit Erfolg: „Intellektuell stellt der Schulstoff kein Problem für Sonali dar“, sagt Susanne, „nur fällt es ihr dann und wann schwer, am Gruppengeschehen teilzunehmen.“ Gut möglich, dass der Schultag für sie extrem anstrengend ist, schließlich muss sie ihre Sehschwäche unentwegt kompensieren. Sonali hat wegen einer Netzhautablösung – Folge ihrer um mehreren Wochen zu frühen Geburt, nach der sie mit Sauerstoff versorgt werden musste – mehrere Augenoperationen hinter sich. Für die Pädagogen ist es, wenn sie nicht mitmacht, mitunter schwer zu erkennen ob Erschöpfung oder Lustlosigkeit im Spiel sind.

Insgesamt jedoch läuft es in der Schule gut. Besser, als alle Beteiligten es zu Beginn des Schuljahres erwartet hatten. Im Unterricht sitzt Sonali vorn an der Tafel, hat eine Lupe auf dem Tisch und die Schulhelferin, die sich zusätzlich um sie kümmert, oft in der Nähe. In großen oder kleinen Buchstaben kann Sonali ihren Namen und viele Wörter schon ohne Probleme schreiben, und das Lesen geht auch schon recht gut.

Sonalis Adoptiveltern, Juddith und Thomas Richter, erzählen beim Abendessen in der Wohnung, dass es sie immer wieder überrascht, mit viel Lebensfreude und zupackendem Einfallsreichtum, das Mädchen Herausforderungen angeht. Wie froh sie sind über die Wissbegierde, die freudige Energie, mit sie sich ihre Welt erschließt.
Auch jenseits des Schulalltags geht sie den Dingen auf den Grund. Sie schaut sich zum Beispiel ein Fahrrad sehr genau an, unterscheidet Kette, Pedale, Reflektoren und will wissen, wie das alles funktioniert. Und sie kann sich selbst helfen: Seit sie zur Schule geht, hat Sonali ihre Hände gewissermaßen zum Leben erweckt. Sie nennt sie Käfer und lässt sie miteinander sprechen. In Dialogen zwischen rechter und linker Hand verarbeitet das Kind Aufregung, Frust und Freude des Alltags. Die Hände wiederholen, was am Tag von den Spielkameraden gesagt wurde, Streitereien werden noch einmal durchgespielt.

Gerade krabbeln die Hände des siebenjährigen Mädchens am Glasrand des Aquariums entlang. Nachdem sie in den Winterferien Sophias Fische versorgen durfte, hat Sonali ein eigenes Aquarium bekommen. Gerade erst wurden die Fische eingesetzt. Seit einer Stunde sitzt Sonali nun schon andächtig vor dem mit grünen Wasserpflanzen und Steinen ausgestatteten Glaskasten. „Guck mal, wie schön die Fische sind“ ruft sie immer wieder und verfolgt den Schwarm Neonfische mit den Augen. Das Aquarium wird zumn Minikosmos im größeren Kosmos ihrer vertraut gewordenen Familie.

Ihr Kind, das damals, beim ersten Kennenlernen in Colombo, noch wild, anarchisch und sehr direkt in all seinen Impulsen war, sei immer deutlicher gezähmt durch die Erziehung, sagt Thomas Richter mit einem Hauch von Bedauern.
Was sie noch lernen muss, ist, klarer zwischen den verschiedenen Beziehungen zu verschiedenen Menschen zu unterscheiden. Sonali ist sehr kontaktfreudig und begegnet Menschen, die sie gerade erst kennen gelernt hat, manchmal ebenso vertraut wie solchen, die sie gut kennt.
Mit Spaß am Experiment wendet sie die Umgangsformen an, die die Eltern ihr nach und nach beibringen. Neuerdings stellt sie sich mit Namen und Alter vor, bevor sie ein Gespräch beginnt. Dass sie sich Namen und Gesichter schlecht merken kann, kann beim Gegenüber schon mal zu Irritationen führen, die Sonali durchaus bemerkt.

Als sie sich später am Abend in Judith Richters Armen kuschelt, will Sonali plötzlich wissen, woher ihr Name komme, ob sie ihn von der „Bauch-Mama“ habe. Seit sie von Judith Richter erfahren hat, dass ihre leibliche Mutter sie nach der Geburt nicht behalten konnte, beschäftigt Sonali das Schicksal ihrer „Bauch-Mama“ im fernen Sri Lanka immer wieder. Diskret umkreist das Mädchen die Geschichte ihrer Herkunft und Geburt im Gespräch mit den Eltern. Mit ihrer dunklen Haut und den tiefschwarzen Haaren sieht sie anders aus als ihre Eltern. Die Kinder in der Schule fragen, warum das so ist. Und so wird Sonalis Geschichte immer wieder Thema. Sie muss damit zurechtkommen, dass sie zwischen zwei Welten lebt: zwei Mütter hat sie und zwei Länder, mit denen sie verbunden ist.
Sri Lanka, das ist für Sonali inzwischen ein fast mystischer Ort, die andere, ferne Heimat, die zu ihr gehört, wie Berlin. Und manchmal, wenn sie nachmittags im Schulhort auf der Schaukel hin- und herschwingt, träumt sie sich dorthin.