In den Fängen einer paranoiden Gesellschaft

Temperamentvoll wie eine Horde Wildpferde jagen die fünf Schwestern durch die Gassen des kleinen türkischen Dorfes an der Schwarzmeerküste. Mit wehenden Mähnen, denn das Leben ist schön! Sie sind jung und stark und gehören zusammen wie die fünf Finger einer Hand. Seit die Eltern tot sind, werden Sonay, Selma, Ece, Nur und Lale von der nachsichtigen Oma groß gezogen. „Alles war gut“, erzählt Lale aus dem Off, „aber dann ging es mit einem Schlag den Bach runter.“
Ein harmloses Vergnügen in der Brandung mit ein paar Nachbarjungen wird den Schwestern im Dorf als ungebührliches Verhalten ausgelegt. Mit dem Anruf einer alarmierten Nachbarin findet die Kindheit, der paradiesische Zustand von Freiheit und Unschuld, für die Mädchen ein jähes Ende. Oma züchtigt jede einzelne und behauptet, sie hätten sich an den Jungen „gerieben“. Wie absurd sie das findet, zeigt Lale, indem sie einen Stuhl verbrennt, weil der sich an ihren Hintern gerieben habe.

Von nun an nimmt sich Onkel Erol der Erziehung seiner Nichten an – und fährt, um sicher zu gehen, dass sich das Aufpassen noch lohnt, alle fünf in seinem SUV zur Jungfernhautkontrolle. Noch können die Schwestern lachen, aber die Luft zum Atmen wird im Verlauf der Geschichte gefährlich dünn werden.

Die 1978 geborene Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erzählt in ihrem Debütfilm Mustang ohne Hast, dafür mit Respekt vor der anarchischen, noch nicht sexualisierten Sinnlichkeit der Mädchen. Davon, wie aus der Sicht der burschikosen elfjährigen Lale, sich die Räume für solche Empfindungen schließen. Ergüven hat ein Ensemble von Schauspielerinnen gefunden, das in jeder Hinsicht überzeugt. Mustang gelingt es, mit tragikomischen Elementen vorzuführen, wie groteske Vorsichtsmaßnahmen erst heraufbeschwören, was die Moralapostel zu unterbinden vorgeben: die totale Sexualisierung des Lebens. Die Angst vor dem Ehrverlust führt zu einer paranoiden Fixierung auf Sexualität und wird zum Instrument der Unterdrückung. Mit bitteren Konsequenzen, vor allem für die Frauen.

Deniz Gamze Ergüven lebt überwiegend in Frankreich und hat von dort aus einen distanzierten Blick auf die Gesellschaft in ihrem Heimatland Türkei. Die Geschichte mit dem Spiel in der Brandung habe sie als Kind selbst erlebt, hat die Regisseurin einmal erzählt, Jahre später erst habe sie sich über die Zurechtweisung empören können. Diese Verzögerung, die Hilflosigkeit, die Erkenntnis, wie schwer Widerstand im wirklichen Leben fällt, ist als eine ins Utopische überhöhte Wildheit in die Figuren von Mustang eingewandert; ihre Abenteuer tragen märchenhafte Züge.

Das Miteinander der Schwestern, ihre Nähe und Verbundenheit, wird von der Filmemacherin als subversive Kraft inszeniert. Sind die Türen verschlossen, klettern die Mädchen an der Regenrinne aus dem Fenster im zweiten Stock. Müssen sie kackbraun-formlose Kleider tragen, machen sie sich Schlitze rein. Außer Rand und Band geraten die fünf bei einem Fußballspiel in der Stadt, das ausschließlich von Frauen besucht werden darf.
Derweil wird jeder Regelverstoß vom Onkel mit Repressionen geahndet. Und so mündet die Weite der sorglosen Kindheitstage schließlich in trister Häuslichkeit. „Das Haus wurde zu einer Fabrik für Ehefrauen, der wir nicht entkamen“, kommentiert Lale trocken aus dem Off. Das große Heiraten setzt ein – die Flucht nach vorn, wenn fünf Jungfernhäutchen zu bewachen sind.
Als jüngste der Schwestern kommt Lale für Brautwerbungsgeschenke vorerst nicht infrage. Nach der ersten Doppelhochzeit – nur für eine ihre großen Schwestern ein Freudenfest –, beginnt sie heimlich, Vorbereitungen für die Flucht zu treffen, hält Ausschau nach Verbündeten und nimmt Fahrstunden bei einem Gemüsehändler.

Deniz Gamze Ergüven ist eine parteiische Erzählerin, aber nicht geleitet von Wut und Hass. Stattdessen bleibt sie dicht bei den Mädchen. Sondiert immer wieder Freiräume und Auswege. Lale streift in einer Szene durch das vergitterte Haus und schafft es, die Dachluke zu öffnen. Sie klettert nach draußen, sitzt dort oben und genießt den Ausblick. Und die Gewissheit, dass immer irgendwo ein Durchschlupf zu finden ist.
Dass Mustang gleich neunmal nominiert ist bei der Verleihung des César am 26. Februar in Paris, und zwei Tage später in der Kategorie bester fremdsprachiger Film um den Oscar konkurriert, hat auch damit zu tun, dass der Film einen Beitrag zur aktuellen Debatte über das Frauenbild des Islam leistet. Ohne anzuklagen, unverkrampft und verspielt, wird ein differenzierter Blick auf den Mikrokosmos Familie geworfen und dabei um Mitgefühl für das Schicksal der Mädchen geworben. Das herrliche Licht und die schönen Bilder (Kamera: David Chizallet) entfalten einen Sog, die stimmungsvolle Filmmusik (Warren Ellis) verleiht Lales Entdeckungen Tiefe.

Am Rande einer Vorführung auf der Berlinale erinnerte die Berliner Journalistin Güner Yasemin Balci daran, dass sich ähnliche Geschichten wie die der Schwestern in unserer Mitte abspielen. Blaci hat sich in den Romanen Arab Boy und Arab Queen mit den Schwierigkeiten auseinandergesetzt, vor denen Jugendliche stehen, die sich heute zum Islam verhalten müssen.
Das größte Verdienst von Ergüven ist, dass Mustang die Mädchen nicht als Opfer inszeniert, sondern als selbstbewusste, kluge Geschöpfe, für die es Auswege geben kann. Bis zum Ende dürfen im Film die Mähnen als Symbol der Unzähmbarkeit hinter den Mädchen her wehen.