Einwanderzirkus

Shermin Langhoff im Gespräch über den Erfolg des postmigrantischen Theaters und ihren Wechsel ans Maxim Gorki Theater im Jahr 2013

missy-04-2012

Frau Langhoff, das Singspiel „Die Saison der Krabben“ von Hakan Savaş Mican hat die neue Spielzeit am Ballhaus Naunynstraße eröffnet. Worum geht es darin?

Das Stück erzählt von einer Frau, die aus ihrem kleinbürgerlichen Leben in Berlin Mariendorf ausbrechen will, eigentlich eine klassische Emanzipationsgeschichte mit Bezügen zu Ibsens Nora und Tschechows Irina. Die Geschichte ist universell. Das Besondere ist, dass sich vieles über das Medium Musik transportiert. Die Pianistin und Komponistin Sinem Altan hat in ihren Arrangements vom klassischen anatolischen Volkslied bis zur europäischen Popkultur eine verblüffende Übersetzungsarbeit geleistet. Tradition und Moderne, alles spiegelt sich in der Musik wider. Auch szenisch funktioniert die Erzählung wie ein Musical: Wo es mit Sprache nicht weitergeht, fangen die Figuren an zu singen.

Gesellschaftliche Vielfalt zu spiegeln ist der selbstgestellte Auftrag am Ballhaus Naunynstraße. Spielen Geschlechterfragen auch eine Rolle? 

Auf jeden Fall. In Saison der Krabben ist es die Figur der Asiye, die sich emanzipiert. Frauen haben besonders viel zu tun, wenn es darum geht, sich gegen Zuschreibungen zu wehren. Das gilt für die kulturellen Verhältnisse, in denen sie leben, wie für die paternalistischen Diskurse, die sie daraus erretten wollen. Ich erinnere an Sarrazin. Kaum besser ist der linke feministische Gestus, der den Frauen die Kopftücher vom Kopf reißen will. In der Produktion Dröhnende Fragen und Scheppernde Antworten, die im Dezember wieder am Ballhaus zu sehen sein wird, lassen wir die Köpfe reden. Drei junge Schauspielerinnen beleuchten darin die patriarchalische Struktur des Theaters.

Welche anderen Themen prägen die Inszenierungen am Ballhaus?

Im November zeigen wir ein Projekt, das sich mit dem Untersuchungsausschuss über die Gruppe NSU beschäftigt. Arbeitstitel: Ein Fahrrad könnte eine Rolle spielen… Das ist eine gemeinsame Stückentwicklung der jungen Autorin Marianna Salzmann mit Deniz Utlu unter Verwendung der Protokollen der Berliner Journalistin Mely Kiyak. Die Geschichte handelt von einem jungen Mann, der als Brötchenverkäufer Kontakt zu den verschiedenen politischen Strömungen hat und sich am Ende in nationalsozialistischen Kreisen wiederfimdet. Ein Ding, das er mit diesen Leuten drehen will, geht schief und er verschwindet mit den Waffen. Außerdem wird es eine Koproduktion mit dem Onassis Cultural Center in Athen geben. Sie handelt von Telemachos, dem Sohn des Odysseus und stellt die Frage nach Gehen oder Bleiben in schwierigen Zeiten. Migration, Integration, das sind die Konfliktzonen, die uns am Ballhaus nach wie vor sehr interessieren.

Das Ballhaus hat in den letzten Jahren den Begriff des postmigrantischen Theaters geprägt und war mit diesem Konzept überaus erfolgreich. Was ist Ihre Erklärung?

Als ich im Jahr 2006 am HAU zum ersten Mal das Festival Beyond Belonging kuratierte, wurde klar, dass bei den Künstlern und beim Publikum ein enormer Bedarf bestand für einen Ort, an dem sich Künstler und Publikum mit sogenanntem migrantischem Hintergrund mit ihren Realitäten repräsentiert sehen konnten. Das Ballhaus ist ein solcher Ort und wird es unter der neuen Leitung bleiben.

Ab der Spielzeit 2013 verlassen Sie das Ballhaus und werden neue Intendantin des Maxim Gorki Theaters, ein Theater mit festem Ensemble und festen Strukturen…

Das Gorki ist einerseits ein wunderbares Haus. 160 Mitarbeiter werden tarifgerecht bezahlt. Auf der anderen Seite fehlt es an Produktionsgeldern. Da das Theater dem Land Berlin direkt nachgeordnet ist, ist die Struktur sehr schwer zu verändern. Meine Aufgabe ist es, das Haus für die Zukunft als Stadttheater zu erhalten. Künstlerisch und auf der Ebene des Managements. Ich habe die Herausforderung angenommen, weil ich denke, mit Relevanz, Leidenschaft und Partizipation können wir etwas bewegen.

Wie sieht für Sie das ideale Theater in Zukunft aus?

Ich stehe für ein Stadttheater ein, in dem sich die Gesellschaft in ihrer Diversität spiegelt, inhaltlich wie personell und auch in den Formaten. Es gibt die Notwendigkeit, sich auf breiter gesellschaftlicher Basis mit Einwanderung und ihren Konsequenzen zu befassen.  Dass in Zukunft die gesellschaftliche Relevanz der Theaterarbeit auch für die Finanzierung eine größere Rolle spielen wird, tut uns vielleicht gut. Theaterarbeit muss dringlich sein, sie muss sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen abarbeiten, das ist der Auftrag.