Außenseitertum einer Souffleuse

Über Sabine Bergks Novelle „Gilsbrod“

tdz-01-2013

Aus der dunklen Ecke am Bühnenrand ertönt das Klagelied einer gequälten Kreatur. In einem einzigen langen Satz gibt die Souffleuse Auskunft über die raumgreifende Sopranistin, die am Stadttheater ihr Unwesen treibt. Die große Gilsbrod, Schrecken und Stolz des Intendanten, hat sich versungen. Auf dem Weg zum viergestrichenen C wartet sie mit bohrendem Blick und flatterndem Zäpfchen auf den richtigen Text, den die Souffleuse nicht geben kann. Denn sie muss schrecklich lachen und es entlädt sich derweil ihr eigener Lebenstext, eine Tirade an Kränkungen und Sehnsüchten. In diesem gedehnten Moment verhaken sich die Blicke der Frauen und über unzählige gedankliche Schleifen nähert sich die Erzählerin ihrer Gegenspielerin an.

Zuvor erinnert sie sich mit einer Mischung aus Hass und Anteilnahme, wie die Gilsbrod jene goldene Muschel von der Bühne verbannte, in der doch schon die Mutter der Erzählerin souffliert hatte. Ihr fällt ein, wie Klassenkameraden sie, die angehende Theaterflüsterin, als Kind hänselten und über Nacht auf dem Spielplatz fesselten. Wie erst vor kurzem der geliebte Marlin als frischer Wind am Theater auftauchte. Marlin, dem sie so gern ihre goldbarocke Muschel und ihre Schmetterlinge hatte zeigen wollen. Doch auch die Gilsbrod musste leiden, von Anfang an. Sich über die Ungerechtigkeit des Lebens ereifernd, steigert die Souffleuse sich in einen Wahrnehmungszustand, in dem ihre überreizte Fantasie und die absurde Wirklichkeit sich überblenden. Die große Gilsbrod steckt in einer Kadenz fest, umflattert von schwarzglitzernden Schmetterlingen und, während eines unerwartet sensiblen Pianissimo, ist sie unversehens eins mit der Erzählerin geworden.

Sabine Bergk, Jahrgang 1975 und Regisseurin an verschiedenen Theatern, legt mit ihrem literarischen Debüt einen tragikomischen inneren Monolog vor, der seine Dynamik allmählich entfaltet. Parallel zur endlos auf- und absteigenden Koloratur der titelgebenden Diva schraubt sich der Monolog in den Schmerz des Außenseitertums, das die beiden Frauen schicksalhaft miteinander verbindet.