Alles ein Unfall

Mit seinem Stück „dosenfleisch“ brilliert der junge Dramatiker Ferdinand Schmalz bei den Autorentheatertagen. Die Uraufführung in Berlin hat Tempo und macht Druck

freitag 25/2015Die Sehnsucht nach dem Totalschaden, vom österreichischen Dramatiker Ferdinand Schmalz erspürt, ist eine originelle Metapher für unser nervöses Unbehagen an der Wohlstandsgesellschaft. Versicherungsvertreter Rolf tapeziert seine Wohnung mit Fotos von Unfallwunden und will dem Mysterium Unfall noch näher kommen. Es zieht es ihn an die Raststätte, an der sein letzter Fall sich abspielte, in die Sichtweite der Todeskurve. Mit Hilfe von Beate und der mysteriösen Jayne, nur zum Schein die Betreiberinnen der Raststätte, wird er die Sprengkraft des Augenblicks bald am eigenen Leib erleben und mit lustvollem Todesschrei in eine bessere Welt ausscheiden.

Bei einer Reise durch Kalifornien, so erzählt es Autor Schmalz am Tag vor der Uraufführung am Deutschen Theater Berlin, habe ihn die seltsame Stimmung an der James Dean Memorial Junction fasziniert, die Kreuzung, an der der Hollywoodstar 1955 mit einem Porsche 550 Spyder in den Tod raste. Dort habe er beobachtet, wie eine „unverdellte“, also sturznormal wirkende Idealfamilie merkwürdig ergriffen, geradezu ekstatisch den Unfallort bestaunte. Diese Szene habe ihn zu seinem Stück dosenfleisch inspiriert.

Das Stück verhandelt die Paradoxie unseres Lebensstils: Immer schneller geht es von Ort zu Ort, auch wenn die Orte immer gleicher werden. „von a nach a nach a nach a. kein b in sicht“, legt Schmalz, 1985 in Graz geboren, einer Figur in den Mund. Mit einem furiosen Solo eröffnet die Schlagzeugerin Katharina Ernst die Uraufführung. Regisseurin Carina Riedl greift die Lust am krachenden Aufprall ungebremst auf und verhilft dem Text so zu einer kongenialen Inszenierung, in der sich Tempo und Druck der Geschichte noch erhöhen.

Genau darum soll es künftig bei den Autorentheatertagen gehen, bei denen das Deutsche Theater mit dem Burgtheater Wien und dem Schauspielhaus Zürich kooperiert: das Schreiben für die Bühne zu fördern, aber nicht mit schnell gestrickten Werkstattinszenierungen, sondern mit vollwertigen Regiearbeiten, mit klaren Bekenntnissen zu den ausgewählten Texten.

Der humoristische wie ernsthafte Weltverbesserer Ferdinand Schmalz berichtete im Vorgespräch wie er zu seinem Künstlernamen kam. Angeregt vom Beatles-Song I am The Walrus habe ein Freund ihn, den recht korpulenten Jungkünstler, als Walross porträtiert und das Wort „Schmalz“ unter die Zeichnung geschrieben. Als er schließlich einen Namen brauchte, unter dem er seine Werke in die Welt setzen konnte, nannte er sich „Schmalz“, seine Webseite trägt die Adresse dieschmalzette.at.

Den Volksstückerneuerern Werner Schwab und Franz Xaver Kroetz sowie der Sprachberserkerin Elfriede Jelinek sieht er sich verwandt, bis zu den Ellenbogen greift er in Rhythmus und Semantik. Wer die Sprache derart durchknetet und umpflügt, schafft Raum für neue Gedanken. Dabei verortet Schmalz seine Figuren in Settings, die realen Orten zum Verwechseln ähneln, in einer Butterfabrik, ein Einkaufszentrum oder eben eine Raststätte – um von dort abzuheben in phantastische widerständige Sphären.

Während des Studiums war er Komparse am Burgtheater, er wurde Regieassistent an der Autorenschmiede des Wiener Schauspielhauses und tüftelte als Performer in einem freien Kollektiv an neuen theatralen Formen. Bei alldem habe er gemerkt, wie sehr ihn die Arbeit an der Sprache interessiere. Dass er an dieser Stelle tiefer bohren wolle. Kollektives Schreiben schätze er, aber er brauche auch Phasen der Unverfügbarkeit, das Alleinsein mit dem Text. Ein Schmalz-Stück entsteht demnach in drei Phasen: „Zuerst Recherche in der Bibliothek mit Blick auf das umfangreich Brechtregal, das spornt schon an.“ Dann müsse er anfangen mitzusprechen beim Schreiben. Das funktioniere am Anfang noch geflüstert im Kaffeehaus. In Phase drei müsse er, aus Rücksicht auf die anderen Gäste, in seine Wohnung umziehen.

Vom Fachblatt theater heute wurde Schmalz zum Nachwuchsdramatiker des Jahres 2014 gekürt. Mit seinem Industriekrimi am beispiel der butter , in dem ein Molkerei-Angestellter Reisende mit unetikettierten Joghurt füttert, und so die reguläre Nachfrage nach dem Milchprodukt zu schmälern droht, räumte er 2013 den Retzhofer Dramapreis ab.

Schmalz‘ spielerische Mischung aus bildlichen Wortimprovisationen und philosophisch angehauchter Kritik am konformen Dasein kommt in den Theatern und beim Publikum an. Es gibt eine Sehnsucht nach Utopie und Vision, einem künstlerischen Entwurf, der den bierernsten Realismus hinter sich lässt. Dabei ist es auch Schmalz durchaus ernst: „Wie lange noch diese biedermeierliche Zufriedenheit, wie lange die Augen verschließen vor dem Chaos da draußen: IS und Umweltzerstörung?“

Die Ideen stehen Schlange bei dem jungen Dramatiker, der sagt: „Wir müssen die verloren gegangenen Gemeinschaftsräume der Gesellschaft rekonstruieren, eine gemeinsame Sprache wiederfinden.“ Vielleicht kann aus einem Totalschaden noch etwas werden. Das Motto von dosenfleisch ist frei nach Wittgenstein zitiert: „Die Welt ist alles, was der Unfall ist.“